EU- und Brexit-Propaganda: Großbritannien greift in die Grütze

Der Morgen danach: die Wahllokale sind seit über einer halben Nacht geschlossen, aber es gibt noch keine Gewissheit über den Ausgang des britischen EU-Referendums. Aber die Brexiter führen dem bisherigen Auszählungsergebnis zufolge mit 9,5 zu 9,0 Millionen. Und selbst wenn sich das Ergebnis noch zu Gunsten der Remainer dreht: es wird zu eng, als dass Politik und Öffentlichkeit danach wieder zur Tagesordnung übergehen könnten.

Das Hängen und Würgen um den Brexit lässt sich nicht verstehen, wenn die Propaganda außer Acht gelassen wird. Dabei ist es wichtig, sich Propaganda nicht nur als ein Werkzeug vorzustellen, das von wenigen, gerissenen, alles-checkenden smooth operators verwendet wird. Hehre Ansprüche schließen Zynismus nicht aus – Politik ist ein hartes Pflaster. Aber der Zynismus ist nicht alles beherrschend.

Der Reporter, der Korrespondent oder auch der Chefredakteur geht morgens nicht mit dem Spruch zur Arbeit, „mal sehen, wie wir das blöde Volk heute am besten verarschen.“ Und wenn er es doch sagt, meint er es nicht ernst. Er glaubt nicht daran – vielmehr glaubt er an seine Mission. Er ist die vierte Gewalt, der Aufklärer, der Erklärer, er ist die Verbindung zwischen der Bevölkerung und der Politik, und er ist der kritische Wächter.

Und es sind, nach den Worten des SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel, Mitglieder demokratischer Parteien, von denen „jeden Tag die liberale Demokratie verteidigt und lebendig gehalten“ wird.

Wenn von Massenbeeinflussung gesprochen wird – von der vergleichsweise überschaubaren Zahl derer, die Einfluss nehmen wollen -, dann geht es ebenfalls um das, was man für das Richtige hält.

Als David Cameron 2010 britischer Premierminister wurde, übernahm er die Regierung in einem Land, das in seinem Selbstverständnis als „Cool Britannia“ durch die Krise der Finanzindustrie und der sich daran anschließenden Rezession schwer erschüttert war. Die Folgen waren schmerzhaft; die von der Politik an das Land verabreichte Medizin die übliche: Rettung für die Banken, Elend für das Land. Da durfte der kleine Mann nicht zu empfindlich sein: sowohl der Premierminister als auch die Eliten generell machten sich daran, ihn ideologisch abzuhärten.

Mir als Laienbeobachter fielen in der Zeit danach zwei Werke besonders auf. Das eine war ein Film, „The King’s Speech“. Das andere war eine Rede David Camerons auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2011.

Der Film

The King’s Speech, notierte der Kritiker Matthias Dell im „Freitag“, nehme es mit den Faktennicht zu genau – damit meinte er speziell das Timing, mit dem die Stotterprobleme König Georg VI. zeitlich mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zusammenfallen.

Paul Bond, ein Filmkritiker, ging in einem faktenreichen Beitrag für die „World Socialist Website“ deutlich weiter: der Film sei lediglich der neueste in einer Serie ziemlich banaler und freundlich gesonnener Filme über die Monarchie, und er versage, wenn es um die Einhaltung grundlegender historischer Wirklichkeit gehe. In eine ähnliche Kerbe schlug Christopher Hitchens. Und eine Kritik, die ich nicht mehr wiederfinde, machte es kurz und erfreulich. Man müsse sich das einmal vorstellen: ein Land muss in den Krieg, Tod, hunderttausend- bis millionenfaches Leid und Verderben stehen vor der Tür, aber alles nicht so entscheidend. Statt dessen, so mache der Film glauben, werde die Nation schreiend zusammenbrechen und nie wieder auf die Füße kommen, falls der König in seiner Rede stottern sollte. Was für ein irrer Plot – wer glaubt denn sowas?

Jeder, der dazu bereit ist. Also Millionen von Zuschauern.

Auch die Königin spielte mit: der Film habe sie berührt, ließ sie wissen. Caption: "Daily Mail" am 04.02.11.

Auch die Königin spielte mit: der Film habe sie berührt, ließ sie wissen. Caption: „Daily Mail“ am 04.02.11. Für den Artikel auf Bild klicken.

Die Rede

In seiner Rede auf der Münchener Sicherheitskonferenz am 5. Februar wandte er sich Cameron einem Thema zu, das seine Amtszeit wohl nicht weniger intensiv (wenn auch für die Mehrheitsgesellschaft wenige dramatisch) prägt als der Brexit. In den Worten von 10 Downing Street handelte es sich um eine Rede, die Camerons Blick auf Radikalisierung und islamischem Extremismus darlege. Das hörte sich so an:

Im Vereinigten Königreich finden es einige junge Männer schwierig, sich mit dem traditionellen Islam zu identifizieren, wie ihre Eltern ihn praktizieren, und dessen Bräuche farblos wirken können wenn sie in moderne westliche Länder transplantiert werden. Aber diese jungen Männer finden es außerdem schwierig, sich mit Britannien zu idenfifizieren, weil wir die Schwächung unserer kollektiven Identität zugelassen haben. Unter der Doktrin staatlichen Multikulturalismus haben wir verschiedene Kulturen dazu ermutigt, getrennte Leben zu führen, getrennt voneinander und abseits vom Mainstream. Wir sind daran gescheitert, eine gesellschaftliche Vision zu bieten, zu der sie gehören möchten. Wir haben sogar ein Verhalten solch abgetrennter Gesellschaften toleriert, das unseren Werten zuwiderläuft.

Und

Redefreiheit, Religionsfreiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, gleiche Rechte ungeachtet von Rasse, Geschlecht oder Sexualität. [Ein wirklich liberales Land] sagt seinen Bürgern, dies macht unsere Gesellschaft aus: Zugehörigkeit besteht darin, an diese Dinge zu glauben. Nun muss, glaube ich, jeder von uns in seinem Land eindeutig und nüchtern sein in der Verteidigung unserer Freiheit.

Es ist ein schmaler Grat zwischen berechtigter Kritik an verfassungswidrigen Visionen einerseits, und einer Verteufelung gesellschaftlicher Minderheiten zwecks Selbstüberhöhung des Mainstreams. Über vier Jahre später jedenfalls war Camerons Islamkritik an einem Punkt angekommen, an dem der „Economist“ Mäßigung anregte.

Integrative und agitative Propaganda

Beide Werke – der Film und Camerons Ideologiearbeit – hatten aber gemeinsam, dass sie integrativ wirken wollten, und das auch taten. Aber eben diese Propaganda, mit ihrer Beschwörung britischer Identität, scheint des Guten zuviel getan zu haben.

Es war nicht der Islamismus, der dem Land – und vor allem der Tory-Partei – richtig gefährlich wurde. Es war die eigene Propaganda – in dem Moment nämlich, als mindestens zwei Fronten in der Konservativen Partei versuchten, sie einander zu entreißen. Sie begannen zu agitieren. Dem akuten Ziel mag das dienlich sein; der Stabilität einer konditionierten Gesellschaft aber schadet es, und damit auch der politischen Macht.

Was Cameron nach den für die Tories siegreichen Unterhauswahlen vor gut einem Jahr fehlte, war ein EU-freundlicher Koalitionspartner, der das Referendum, auf das er sich festgelegt hatte, hätte verhindern können.

Und was Cameron fehlte, als er im Februar aus den Verhandlungen mit der EU-Kommission und seinen Amtskollegen vom europäischen Festland nach London zurückkam, war der große, unbestreitbare Sieg über die verdammten Bürokraten in Brüssel. Der wäre ja wohl das mindeste gewesen.

„Wenn er diese Scharade akzeptiert, wird Cameron meines Erachtens sein politisches Todesurteil unterschreiben,“ drohte ihm ein Kolumnist der „Daily Mail“, wohl wissend, dass Cameron sein Schicksal längst mit dem „Deal“ verbunden hatte.

Aber plötzlich sollte der opportunistische Cameron ein prinzipienfester Churchill sein, oder zum Teufel gehen.

Das war objektiv zuviel verlangt. Es wäre von jedem Premierminister zuviel verlangt. Aber die Saat, aus der die Überforderung aufging, war die Propaganda, die jetzt manche ihrer Anwender (und Anhänger) fressen wird.

Mit Objektivität hat sie nun mal nichts am Hut.

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Blogging about China - the economy, politics, and society. Translating Chinese press articles into English. Making Net Nanny talk.

Eine Antwort zu “EU- und Brexit-Propaganda: Großbritannien greift in die Grütze”

  1. Auerbach sagt :

    Hat dies auf montagfrei rebloggt.

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