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Medien: On-Message, weil’s gefällt

Propaganda hat mindestens zwei Seiten. Sie soll die Öffentlichkeit dazu veranlassen, das zu fordern, was die Autoren einer Politik ohnehin schon wollen. Sind Druckmittel für die Anwender von Propaganda keine Mittel erster Wahl, muss Propaganda aber auch etwas können, was die Öffentlichkeit ihr mehrheitlich gar nicht zutraut: sie muss so argumentieren, dass eine Mehrheit – oder je nach Möglichkeit eine Minderheit als hinreichend kritische Masse – sie nicht nur zustimmungswürdig, sondern zustimmungsnotwendig findet.

The Genius leads the spectators: engineering of consent in its early stages.

Publikum Nummer Eins: Engineering of Consent in seiner primitiven Phase.

Der Grund dafür, dass die meisten großen und kleinen Medienorganisationen auf vielen Gebieten vorhersehbar argumentieren – jede auf ihre Weise – liegt in den Interessen ihrer Kapitalgeber. Die Vorhersehbarkeit hat aber auch damit zu tun, dass Leser von den Medien ihrer jeweiligen Wahl Orientierung erwarten. Zu viele innere Widersprüche – von Autor zu Autor – würden die meisten Leser nur verunsichern. Das gilt im Allgemeinen nicht nur für Massenmedien und ihr Publikum; das gilt für kleine Meinungs- und Aktionsgruppen mit ihren Medien mindestens ebenso.

Bei Massenmedien muss man unterscheiden zwischen der „Bezahlzeitung“ (digital oder gedruckt) und dem, was für den Leser kostenlos online gepostet wird. Wer für den Artikel nichts bezahlen musste, ist vergleichsweise geneigt, ihn auch dann zu lesen, wenn er nicht seiner Meinung entspricht, und sei es nur, um ihm da, wo es schnell getan ist, umgehend zu widersprechen.

Aber wer bezahlt hat, will üblicherweise das lesen, was er ohnehin schon glaubt.*) Und das kriegt er auch.

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*) Ein interessanter Grenzfall ist der per Haushaltsabgabe finanzierte Rundfunk. Bei seiner Finanzierung kommt tatsächlich ein Druckmittel zur Anwendung, das sich – z. B. steuergeldfinanziert – unauffälliger gestalten ließe, dessen Auffälligkeit aber beabsichtigt ist.

Morning Roundup: zwei Britanniens, viele EUs

Heute:

  • Nach dem Referendum
  • Israel/Türkei, Türkei/Russland normalisieren Beziehungen
  • Polnisches Fernsehen: Berlin und Paris planen Superstaat
  • Rosinenpicker: Merkel, nein Gabriel hat’s versemmelt

Wer braucht jetzt noch einen Scoxit?

Wenn man den „sozialen Medien“ glauben darf (oder muss), gibt es ohnehin schon zwei UKs.

Wollen die im Referendum Unterlegenen, dass das so bleibt? Hoffen sie, die Entscheidung umstoßen zu können? Oder handelt es sich um Trauerarbeit?

Israel und Türkei entsenden Botschafter

Israel und die Türkei kündigten am Montag eine Normalisierung ihrer seit der Aufbringung der Mavi Marmara 2010 ausgesetzten diplomatischen Beziehungen (auf Botschafterebene) an.  Dazu äußerten sich Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu auf einer Pressekonferenz in Rom, und sein türkischer Amtskollege auf einer Pressekonferenz in Ankara.

„Haaretz“ zitierte Netanyahu mit den ihm zufolge wichtigsten Punkten der Abmachung. Demnach werde das türkische Parlament ein Gesetz verabschieden, das alle Forderungen an involvierte israelische Soldaten streiche und zukünftige Forderungen blockiere. Außerdem enthalte die Vereinbarung eine Verpflichtung der Türkei darauf, „terroristische“ oder militärische Aktivitäten gegen Israel von türkischem Boden aus zu verhindern und Geldsammlungen für solche Zwecke zu verbieten. Allerdings dürften Hamas-Büros auch weiterhin auf türkischem Boden – politisch – aktiv sein.

Die Türkei verzichtete auf ihre Forderung, die israelische Blockade Gazas müsse vollständig aufgehoben werden. Somit erkenne die Türkei an, das Hilfslieferungen in den Gazastreifen zunächst Kontrollen im Hafen der israelischen Stadt Ashdod durchlaufen müsse.1)

Israel werde der Türkei die Förderung humanitärer Projekte in Gaza ermöglichen, darunter den Bau eines Krankenhauses, ein Kraftwerk und eine Meerwasserentsalzungsanlage, allerdings unter  Sicherheitsvorbehalt.

Seinerseits erklärte der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim, ein erstes türkisches Schiff mit 20.000 Tonnen an humanitärer Hilfe werde am Freitag nach Ashdod auslaufen.

Israel wird dem „Haaretz“-Bericht zufolge 20 Mio. US-$ an einen humanitären Fond zahlen, der in der Türkei eingerichtet werde. Das Geld werde an die Familien derjenigen übertragen, die der Aufbringung der „Hilfsflotte“ 2010 getötet oder verletzt wurden. Zuvor allerdings müsse einem israelischen Offiziellen zufolge das türkische Parlament das Gesetz zur Blockierung von Ansprüchen gegen israelische Soldaten verabschieden.

Bereits am Sonntag habe Israel einen amtlichen Brief mit Erdogans Versprechen übergeben, türkische Geheimdienste einzusetzen, um zwei israelische Soldaten und zwei israelische Zivilisten freizubekommen, die in Gaza verschwunden seien und von Hamas festgehalten würden.

Kol Israel, der Radiodienst Israels für In- und Ausland, zitierte am Montag in seinen englischsprachigen Mittagsnachrichten (Ortszeit) Oppositionsführer Isaac Herzog:

Opposition leader, MK Isaac Herzog, said that Israel’s consent to compensate those who attacked IDF soldiers in the clash involving the Mavi Marmara Flotilla to Gaza in 2010 is mind-boggling. Especially, he says, considering that prime minister Netanyahu, defense minister Avigdor Lieberman,2) and education minister Naftali Bennett are the ones whose names are attached to the agreement with Turkey, that the right-wing leadership, said Herzog, is paying compensation to those who attacked IDF soldiers. Herzog also charged that security cabinet ministers are oblivious, as he put it, to the calls from the families for the return of missing Israeli soldiers from the 2014 military operation in Gaza. The families wanted it to be part of the agreement because of Turkey’s ties to Hamas, which rules the Gaza Strip and which has a command center in Istanbul.

Gideon Saar, ein früherer einflussreicher Likud-Minister, wurde von Kol Israel mit der Kritik zitiert, Netanyahu hätte die Tatsache nutzen müssen, dass die Türkei Probleme mit Russland, Amerika und den Kurden im eigenen Land habe, um ein besseres Ergebnis zu erzielen.

Dabei könnte ihm allerdings eine Aussage Moskaus entgangen, oder noch nicht bekannt gewesen sein, der zufolge Erdogan sich für den Abschuss eines russischen SU-24-Bombers im November 2015 durch die türkische Luftwaffe brieflich entschuldigt habe.

Der türkische Kurzwellensender „Stimme der Türkei“ erklärte in seiner deutschsprachigen Nachrichtensendung am Montagmittag, die Vereinbarung mit Israel werde als ein diplomatischer Erfolg der Türkei gewertet.
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1) Über diesen Punkt scheinen die Darstellungen Netanyahus und Yildirims auseinanderzugehen. Laut „Guardian“ erklärte Yildirim in seiner Pressekonferenz in Ankara, die israelische Blockade des Gazastreifens sei „weitgehend aufgehoben“ worden.
2) Verteidigungsminister Lieberman, der 2013 die Entschuldigung Netanyahus kritisierte, mit der die Normalisierungsverhandlungen zwischen Israel und der Türkei begannen, gehörte seinerzeit nicht dem Kabinett an. Er wird Berichten zufolge am Mittwoch, wenn das israelische Kabinett über das Abkommen mit der Türkei abstimmt, dagegen votieren.

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Polnisches Fernsehen: Berlin und Paris planen „Superstaat“

Die Regierungen und Medien der Visegrád-Staaten (Polen, die Slowakei, Tschechien und Ungarn) sind beunruhigt, und das nicht nur wegen des Brexits an sich, sondern auch wegen des Treffens der sechs EU-„Kernstaaten“, also der Gründungsstaaten Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und den Niederlanden. Bei dem Treffen der sechs Außenminister am Samstag in Berlin war Großbritannien zu einem zügigen Austrittsverfahren aufgerufen worden, was London jedoch kühl zurückwies: das Referendum sei eine innere Angelegenheit Großbritanniens, und das Timing, mit dem das UK die verfahrensauslösende Nachricht an die EU übergebe, werde man selbst bestimmen.

Die Verärgerung der Visegrád-Staaten wiederum fasste Radio Prag am Montagnachmittag so zusammen:

Bevor aber eine gemeinsame Lösung gesucht wird, ist es doch wieder zu einer Grüppchenbildung gekommen. Gerade Deutschland hat sich zunächst auf den kleinen Kreis der EG-Gründerstaaten gestützt, noch bevor die Verhandlungen in großer Runde beginnen konnten. In Prag haben sich nun die Außenminister der Visegrád-Staaten getroffen, um die Situation nach dem Ja zum sogenannten Brexit zu beraten. Ihrem Treffen wohnten auch der deutsche Außenamtschef Frank-Walter Steinmeier und der französische Außenminister Jean-Marc Ayrault bei.

Die seit 1991 – also vor der EU-Mitgliedschaft dieser Staaten – gebildete Visegrád-Gruppe wurde mit der Flüchtlingskrise erheblich wiederbelebt. Wirklich Gewicht erhielten die Skeptiker der deutsch-schwedischen, liberaleren Flüchtlingspolitik aber erst mit dem Machtwechsel in Polen im November 2015, hin zur nationalkonservativen PiS-Partei, so der „Economist“ im Januar. In den Visegrád-Staaten gebe es keine nennenswerte Zahl von Flüchtlingen.

Die Euroskepsis könnte allerdings nach hinten losgehen, warnte der „Economist“: Deutschland habe angedeutet, bei der Budgetgestaltung der EU könnten Länder bevorzugt werden, die die Flüchtlingsbürde mit trügen.

Was noch vergleichsweise harmlos wäre, auch wenn man die Öffentlichkeit damit ein paar Tage beschäftigen kann.

Am Montagvormittag hatten Radio Polen bzw. die polnische Nachrichtenagentur PAP das polnische Fernsehen TVP Info mit einer Enthüllung wiedergegeben, der zufolge Deutschlands Außenminister Steinmeier den vier zentraleuropäischen Ländern ein Vorschlagspapier vorlegen wolle, bei dem es sich um ein „Ultimatum“ handle.

TVP Info sagte, die Vorschläge bedeuteten, dass Mitglieder eines [europäischen] Superstaats praktisch kein Recht auf eine eigene Armee, ein eigenes Strafgesetzbuch oder ein getrenntes Steuersystem haben würden, und keine eigene Währung.

Außerdem, so TVP Info, verlören die Mitgliedsstaaten die Kontrolle über ihre eigenen Grenzen und über die Verfahren zur Aufnahme und Umsiedlung von Flüchtlingen.

Polens Außenminister Minister Witold Waszczykowski sagte gegenüber TVP Info: „Dies ist natürlich keine gute Lösung, denn seit der Zeit, als die EU erfunden wurde … hat sich viel verändert.“

„Die Stimmung in den europäischen Gesellschaften ist anders. Europa und unsere Stimmberechtigten wollen die Union nicht in die Hände von Technokraten übergeben.“

[…]

Martin Schäfer, ein Sprecher des deutschen Außenministeriums, sagte: „Berlin will keinen Superstaat, es will ein besseres Europa.“

Es müsste langsam auffallen: es fehlt nicht nur an echten Bemühungen um ein „besseres Europa“, sondern auch an einer europäischen Öffentlichkeit, in der definiert würde, wie so ein Europa eigentlich aussehen müsste.

Es gibt nicht nur zwei Vereinigte Königreiche (Brexiters und Remainers); es gibt auch mindestens zwei EUs. Wesentlicher Unterschied: die zwei Königreiche nehmen einander zur Kenntnis.

Merkel, nein, Gabriel, ist schuld am Brexit

Die deutsche Berichterstattung über das EU-Referendum im Vereinigten Königreich weist Mängel auf. Sie bedient und verstärkt Stimmungen, anstatt nach Ursachen zu forschen.

Insoweit ist die Kritik, die Jan Fleischhauer gestern (am Montag) in seiner Kolumne auf „Spiegel online“ äußert, durchaus berechtigt.

Nun ist eine Kolumne keine Berichterstattung. Sie ist – jedenfalls nicht zuletzt – Meinung. Und da pickt sich Fleischhauer die Rosinen aus den Indizien – oder Nochnichtmalindizien, denn er beweist ja erklärtermaßen nichts – aus dem Argumentenkuchen herauspickt:

Ginge es um eine echte Bestandsaufnahme der Brexit-Gründe, müsste über die Flüchtlingspolitik geredet werden. Man wird nie beweisen können, welchen Anteil Merkels Politik der offenen Grenzen für den Ausgang des Referendums spielte. Aber dass die Bilder von Flüchtlingstrecks Richtung Bayern vielen Briten eine Heidenangst eingejagt haben, darf als gesichert gelten. Wenn nicht einmal die disziplinierten Deutschen willens oder in der Lage sind, ihre Grenzen zu schützen, wem soll es dann gelingen?

Heidenangst – das ist schon eine Quantifizierung. Der Hinweis auf den Faktor „Flüchtlingspolitik Deutschlands“ hätte – wollte Fleischhauer Anspruch auf Objektivität erheben – reichen müssen.

Und für Lutz Herden („Der Freitag“, keine Kolumne, aber Meinung) spielt Griechenlands Beinahe-Brexit eine Rolle im Brexit:

Als sich beim Referendum in Griechenland am 5. Juli 2015 eine klare Mehrheit gegen die absehbaren Zumutungen der Troika aussprach, befand Gabriel, Tsipras habe „letzte Brücken eingerissen, über die Europa und Griechenland sich auf einen Kompromiss zubewegen könnten.“ Bis heute ist das Gerücht nicht widerlegt, Gabriel habe sich intern für einen Grexit ausgesprochen, weil nicht der Eindruck entstehen sollte, die SPD sei zu nachgiebig in Finanzfragen und neige vielleicht gar zum Schuldenschnitt für Griechenland.

Inzwischen scheint Gabriel die Ahnung umzutreiben, dass der 5. Juli 2015 in Griechenland ein Vorläufer des 23. Juni 2016 in Großbritannien gewesen sein könnte.

Könnte. Nicht unwahrscheinlich. Zumal unter den doofen, womöglich gar geschichtsbewussten, Alten.

So picken sich Rechts und Links ihre Lieblingsursachen für den Brexit heraus, und jeder wird auf seine Weise fündig. Aber ob sich daraus ein Gesamtbild entwickeln lässt?

Bloggers Ohnmacht, Bloggers Einfluss

Als sich vor über fünf Jahren – das Datum unten ist maßgeblich, nicht das oben auf dem NRHZ-Flyer – erstmals vier von der „Deutschen Welle“ abservierte Redakteure mit einer öffentlichen Erklärung zu Wort meldeten, empfand ich stärker als sonst die Teilnahmslosigkeit der „Gesellschaft“, in der ich lebe. Ich hatte nie viel mit Margaret Thatchers Aussage anfangen können, es gebe keine Gesellschaft, sondern nur „lebendes Gewebe von Männern und Frauen und Menschen“. Menschen bedeuten einander offenbar nur etwas, wenn sie entweder einander kennen, oder wenn sie gedanklich oder idealistisch irgend etwas verbindet, sei die Verbindung bestimmt oder unbestimmt.

Ich weiß nicht, was mich gedanklich oder ideell mit den DW-Dissidenten verband. Aber ich erinnere mich an ein wochenlang anhaltendes Gefühl der Enttäuschung über mein Land, dessen Medien eine Nachricht, die von den Bergen hätte verkündet werden müssen, nicht nur ignorierten, sondern geradezu geräuschlos aufsogen, wie die Wände eines schalltoten Raums – in eben dem Raum, den wir den öffentlichen nennen. Lies mehr …