Morning Roundup: Theresa May nuklear schussbereit
Donald J. Trump ist jetzt US-Präsidentschaftskandidat der Republikanischen Partei. Und Angela Eagle macht in der Labour-Basiswahl des Parteichefs Platz für Owen Smith, um eine einig‘ Front gegen Amtsinhaber Jeremy Corbyn zu bilden. Dazu mehr am morgigen Donnerstag.
Sofortbild, der anglophile Blog, bleibt heute auf den britischen Inseln. Es geht um die vier atomar bewaffneten U-Boote des Vereinigten Königreichs. Aber der Reihe nach, von Samstag, dem 16. Juli, bis zum späten Montagabend, dem 18. Juli.
1. Prolog, Radio 4, 16.07.16
Tom Newton Dunn von der „Sun“, rotierender Mitmoderator der BBC-Radio-4-Serie „Week in Westminster“ und auf Schicht am 16.07., bestaunte die Geschwindigkeit des britischen politischen Lebens und zeichnete dann zusammen mit David Camerons Kommunikationsdirektor a. D. Craig Oliver ein duftes Image des Premierministers a. D..
Und was – nächste Frage – wartete auf die neue Premierministerin Theresa May, „hinter jener großen schwarzen Tür“? Dr. Catherine Haddon, eine Historikerin, sollte Dunn beim Lüften der Geheimnisse helfen, und sie hatte den konservativen Mittelstandsbildungsbürgern vor den Radiogeräten und an den mobilen Endgeräten viel Wissenswertes zu bieten.
CH: Man wird sie mit der nuklearen Abschreckung bekanntgemacht haben, und der Chef des Verteidigungsstabs wird sie mit ihr durchgesprochen haben, und welche Feuerkraft besteht, was sie ausrichtet, was sie genau ausrichtet, weil sie nun dafür verantwortlich ist, und sie wird gebeten worden sein, nukleare Stellvertreter zu ernennen, Leute, die die Entscheidung in ihrer Abwesenheit treffen können, und sie wird diese berühmten Ultima-Ratio-Briefe an die U-Boot-Kommandanten schreiben, darüber, was im Fall eines schweren Schlags gegen das UK getan werden soll, wenn, wissen Sie, niemand Entscheidungen treffen kann.
CH: She will also have been introduced to the nuclear deterrents, and talked through that by the Chief of Defence Staff, and exactly what kind of firepower it does, exactly what it does, because she is now in charge of that, and she would have been asked to both appoint nuclear deputies, people who can take the decision in her absence, and also to write these famous letters of last resort to the submarine commanders about what to do in the event of a major strike on the UK where, you know, noone can make any decisions.
TD: Was sollen sie tun?
TD: What are they supposed to do?
CH: Nun,also diese Briefe – sie sind handgeschrieben – werden versiegelt, den U-Boot-Kommandanten selbst zugeschickt und in Safes in unseren vier Trident-U-Booten hinterlegt, und sie werden nur in dem Fall geöffnet, dass [die U-Boote] allen Kontakt mit dem UK verloren haben und wenn es einen katastrophalen Schlag gegeben hat.
CH: Well, so these letters – they’re handwritten letters -, they are sealed, sent off to the submarines themselves and put into safes in our four Trident submarines, and they are only to be opened in the event that they have lost all contact with the UK and when there has been a catastrophic strike.
[…]
CH: Es ist sehr nach Art des Kalten Kriegs. Das […] ich meine, sie bestehen daraus, dass man für, ich glaube, vier Stunden nicht in Kontakt mit dem Marinehauptquartier war, und dass keine Kommunikation aus dem UK kommt, wovon […] Radio 4 eines ist. Man geht davon aus, das es vier Optionen gibt, die hier mit enthalten sind: Vergelten, nicht vergelten, die Sache der Entscheidung des U-Boot-Kommandanten überlassen …
CH: It’s very cold-war. That’s […] I think now it consists of not being in contact with naval headquarters for, I think it’s four hours, and no communications coming out of the UK, of which […] Radio 4 is one of those. There are considered to be four options, that might be included in that: retaliate, don’t retaliate, it might be just to put it under the submarine commander’s decision …
TD: Den schwarzen Peter weitergeben?
TD: To pass the buck?
CH: Ja, genau.
CH: Yes, exactly.
TD: Das ist ein großer schwarzer Peter.
TD: It’s a big buck to pass.
CH: Und es ist eine überwältigende Verantwortung für den U-Boot-Kommandanten, es so zu handhaben. In mancher Hinsicht, die Entscheidung weiterzugeben, unter den Umständen – man weiß nicht, unter welchen Umständen [die Briefe] geöffnet werden müssen -, und die letzte Option ist dann, [die U-Boote] unter das Kommando eines unserer Verbündeten zu stellen, das der Australier oder der Amerikaner, und sie gewissermaßen unter ihren Oberbefehl zu stellen. […] Sehr wenige Premierminister haben wirklich enthüllt, was sie getan haben wollten. James Callaghan war der einzige. Er sagte, seine Wahl war, keine Vergeltung zu üben. Aber natürlich untergräbt es völlig die Abschreckung, wenn sie enthüllen, was sie vielleicht getan hätten, und darum hören wir für gewöhnlich nichts [von den nuklearen Briefen]. Sie werden zerstört, wenn der Premierminister zurücktritt, und David Camerons werden nun zerstört.
CH: And it’s an awesome responsibility for the submarine commander to do, so in some respects, passing on that decision, given the circumstances – you won’t know in which circumstances these need to be opened -, and then the last [option] is to pass command over to one of our allies, the Australians or the Americans and to sort of effectively put them under their command. […] Very few prime ministers have actually revealed what they wanted to do. James Callaghan was the only one. He said his one was not to retaliate. But obviously, it completely undermines deterrence for them to reveal what they might have done, so we usually don’t hear anything about [the nuclear letters]. They are destroyed after the prime minister resigns, and David Cameron’s are being destroyed now.
Radio 4 sei in etwa die „Prawda“ der britischen Mittelklasse, bemerkte vor einigen Jahren der konservative britische Blogger Foarp:
[Radio 4] verabreicht eine besondere Art der Weisheit, die einen von der faden Oberklasse und der umnachteten Arbeiterklasse unterscheidet. Seine Wirkung auf das Gemüt der britischen Öffentlichkeit liegt darin, dass es ein Image mittelständischer Ehrsamkeit schafft, das von keinen gegenteiligen Hinweisen beseitigt werden kann.
It dispenses a particular kind of wisdom which distinguishes one from the vapid upper class and the benighted working class. It’s effect on the minds of the British public is to create an image of middle-class respectability which no evidence to the contrary can dispell.
Vor dem Radiogerät oder an den mobilen Endgeräten sitzen also nicht die Idioten, die Labour wählen oder hemmungslos Staatsgeheimnisse ausplaudern (wie Labour-Premiers das tun): das Publikum war am vorigen Samstag bei Dunn & Haddon überwiegend gut aufgehoben.
2. Unterhausdebatte, 18.07.16
Und derart gut vorbereitet durfte das kluge britische Mittelklassenpublikum am Montag Nachmittag & Abend die große Debatte über die Trident-Modernisierung verfolgen, deren Hintergründe die „Tagesschau“ online am selben Tag darstellte. Labour-Chef Corbyn, ein Gegner der nuklearen Bewaffnung Großbritanniens, suchte einen Mittelweg zwischen seiner Position und den Gewerkschaften, die um die damit verbundenen Arbeitsplätze fürchteten.
Corbyns Mittelweg – U-Boote ja, nukleare Bewaffnung nein – tauchte auch in einer spöttischen Referenz der Premierministerin auf (siehe unten, 20. Minute).
Das Video der Debatte.
Und ein – nicht erschöpfendes – Protokoll der Eröffnungsreden.
2. a. Statement Theresa May
4. Minute: Russische Bedrohung. „The nuclear threat hasn’t gone away, if anything, it has increased.“
Putin baue das nukleare Arsenal seines Landes aus, und „there is no question about President Putin’s willingness to undermine the rules-based international system in order to advance his own interests.“
5. Minute
May zitiert Nordkorea als Beispiel für Länder, die Nuklearwaffen erwerben wollten, es handle entgegen den Resolutionen des UNSC so, es sei das einzige Land, das in diesem Jahrhundert Nuklearwaffen getestet habe, und es teste ballistische Trägersysteme, die für diese Nuklearwaffen geeignet sein könnten.
6. Minute
Sie argumentiert, wenn man eine nukleare Bewaffnung erst einmal aufgegeben habe, sei sie kaum wieder neu aufbaubar, es sei denn in Jahrzehnten. Diese zeitlichen Dimensionen seien von Belang, weil kaum vorhersehbar sei, vor welchen nuklearen Bedrohungen GB und seine Verbündeten zukünftig stehen könnten.
8. Minute
Als legitimierte Atommacht trage GB Verantwortung für seine europäischen Verbündeten: „Britain is going to leave the European Union, but we are not leaving Europe, and we will not leave our European and NATO allies behind. Being recognized as one of the five nuclear weapons‘ states under the nuclear non-proliferation treaty also confers unique responsibilities, as many of the nations who signed the treaty in the 1960s did so on the understanding that they were protected by NATO’s nuclear umbrella, including the UK deterrent.“
9. Minute
Kosten:
[…] no credible deterrent is cheap, and it’s estimated that the four new submarines will cost 31 bn Pounds to build, with an additional contingency of ten bn Pounds, but the acquisition costs spread over 35 years, this is effectively an insurance premium of 0.2 percent of total annual government spending. That’s twenty cents in every one-hundred Pounds for a capability that will protect our people through the 2060s and beyond.
20. Minute (der Schlagzeilenmacher ihrer Rede, eine Antwort auf eine Zwischenfrage)
Q: Is she personally prepared to authorize a nuclear strike that could kill a hundred thousand innocent men, women, and children?
A: Yes. And I have to say to the honorable Gentleman: the whole point of a deterrent is that our enemies need to know that we would be prepared [drowned in reactions]. Unlike some suggestions that we could have a nuclear deterrent but not actually be willing to use it which came from the Labour Party front bench.
22. Minute
May bekennt sich zu nuklearer – multilateraler – Abrüstung, …
23. Minute
… aber „we are committed to retain the minimum amount of destructive power needed to deter any aggressor.“
Und man werde nicht einseitig abrüsten:
But Britain has approximately one percent of the 17,000 nuclear weapons in the world. For us to disarm unilaterally, would not significantly change the calculations of other nuclear states, nor those seeking to acquire such weapons. To disarm unilaterally would not make us safer, nor would it make the use of nuclear weapons less likely.
2. b. Statement Jeremy Corbyn
25. Minute
Gratulation an May zum neuen Amt als Premierministerin, Anmerkungen zu Anschlag in Nizza und zum Putschversuch in der Türkei.
27. Minute
2006 habe das Verteidigungsministerium die Baukosten auf 20 Mrd. Pfund geschätzt. Aber seit dem vorigen Jahr – Wiederholung der May-Zahlen – sei die Rede von 31 bn Pfund plus 10 bn Reserven. Eine andere Quelle spreche von 167 Mrd. Pfund, und er habe Schätzungen von über 200 Mrd. Pfund gehört.
28. Minute: Schlagabtausch mit einem Tory-MP. Corbyn wirkt ungewöhnlich lebendig und spontan.
30. Minute: ein Tory-MP bringt seine koreanischen Wahlkreisbewohner ins Spiel. Wie wolle Corbyn denen seine Opposition gegen die Trident-Modernisierung vermitteln?
Corbyn: auch in seinem Wahkreis gebe es koreanische Wählerinnen und Wähler. Die Sechsparteiengespräche dienten dem Erreichen eines Friedensvertrags auf der koreanischen Halbinsel.
31. Minute
Im früheren Tory-Kabinett habe man im Übrigen im Mai 2009 die (kostengünstigere) Variante luftwaffengestützter Raketen anstelle der U-Boot-gestützten nuklearen Abschreckung diskutiert – mit der Bemerkung des früheren Tory-Verteidigungsministers Nicholas Soames, die öffentlich ausgetauschten öffentlichen Argumente rechtfertigten nicht die erforderliche Höhe der Ausgaben.
31. Minute
Was die Labour-Abgeordneten bei allen ihren Differenzen historisch eine: so sehr ihre Ansichten über die Wege dorthin auch auseinandergingen, so entschieden träten sie alle für eine nuklearwaffenfreie Welt ein. [Reaktion auf einige Spitzen May’s während ihres Statements bis Minute 24.]
Welche Bedrohungen wolle man mit einer angedrohten Million Toter pro Atomsprengkopf eigentlich abschrecken?
32. Minute
Islamic State betreibe ja just einen Todeskult. Saudi-Arabien, ein UK-Verbündeter, begehe furchtbare Akte im Jemen. Kriegsverbrechen in Jugoslawien und Saddam Husseins Gräueltaten, oder den Völkermord in Ruanda, habe die britische Abschreckung eben nicht abgeschreckt.
33. Minute
Er, Corbyn, – so offenbar in direkter Antwort auf Mays Ankündigung, sie würde den Atomschlag durchziehen – würde das jedenfalls nicht tun:
Mr Speaker, I make it clear today that I would not take a decision that kills millions of innocent people. I do not believe the threat of mass murder is a legitimate way to go about dealing with international relations.
Auch hier ein Echo aus den alten, bei BBC Radio 4 am Samstag, diskutierten schweren Entscheidungen (siehe oben, James Callaghan, die alte Plaudertasche).
38. Minute
Corbyn zitiert einen seinerzeit amtierenden Tory-Verteidigungsminister:
The former Conservative defense secretary Michael Portillo said – and he was the defense secretary -, „to say we need nuclear weapons in this situation would imply that Germany and Italy are trembling in their boots because they don’t have a nuclear deterrent.“
2. c. Mhairi Black, MP, Scottish National Party
3. Epilog
Abstimmungsergebnis: Mehrheit für Nuklear-Erneuerung – fast die ganze konservative Unterhausfraktion plus über die Hälfte der Labour-Abgeordneten.
We have but one choice. Ladies and Gentlemen: the Prime Minister:
Guten Morgen.
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Hallodrihi: Steckenpferd Außenpolitik
Deutschlandfunk, Nachrichten vom 14.07.16:
Die Wahl sei ein sehr schlechtes Signal und lasse Zweifel an den Fähigkeiten der neuen Premierministerin May aufkommen, sagte Fraktionschef Hofreiter der Deutschen Presse-Agentur.
Eine klare Positon hatte Anton Hofreiter ja eh schon, nicht zuletzt zu dem „feige zurückgetretenen“ Boris Johnson, dem Hallodri.
Hier las der Heilandshallodri am 5. Juli vom Teleprompter:
Und jetzt geht die neue Premierministerin hin und macht den Brexit-Hallodri zum Außenminister (foreign secretary) im Londoner Kabinett. Als hätte der Toni aus Bayern und Berlin denen nicht klar genug gesagt, dass das gar nicht geht.
Steckenpferd Außenpolitik. Es muss ja nicht immer gleich Diplomatie sein.
Vielleicht ist Europa schon viel zu eng „zusammen“. So „zusammen“, dass man jede Grenze, respektlosen Stuss labernd, überschreiten darf.
Vielleicht haben die Brexiteers ja den richtigen Riecher gehabt, und es wurde höchste Zeit für etwas mehr Distanz.
Morning Roundup (2): Wochen, die sich wie Jahre anfühlen
- Andauernde Bankenkrise
- Bankenbailout 2.0: Deutsche Bank Chef träumt von 150 Mrd. Geldspritze
- Gute Ideen. Wohin bloß mit dem vielen Geld?
- Viel Herz. Goldene Palme für Ken Loach mit I, Daniel Blake
- Jürgen Habermas über Demokratie
- #BREXIT 2. Akt. Theresa May übernimmt Camerons Job
- TTIP wird weiter durchgedrückt
- #PORFRA. Auch ohne Ronaldo. Millionenablöse für Fussballstars, im Hintergrund Tränengaswolken für Demonstranten
- Foto der Woche
»What political economists worry about, however, is the absence of a plan. Or a leadership. Or whether the public has consented to be governed by an elite that no longer understands what it is doing.« Paul Mason, Guardian
Im achten Jahr der historischen Lehman Brothers Bankenpleite zeigt sich überdeutlich, Regierungs-, Finanz- und Bankenkrisen haben eines gemeinsam: Sie werden von sogenannten Experten ausgelöst, die keinen Plan haben. Technokraten der Macht und semi-religiöse Ideologen eines Glaubens an Wachstum und magische Geldvermehrung. Experten deregulierter Märkte, die über ein halbes Jahrhundert predigten, dass, wenn es nur den Reichen gut genug ginge, es für alle reichen würde. Der illusionäre „Trickle-Down-Effekt“ sorge am Ende schon dafür, dass allen genug für ein menschenwürdiges Dasein bliebe.
Nun stellt sich plötzlich heraus, nein, es stimmt nicht. Es ist nicht genug für alle da. Den „Trickle-Down-Effekt“, den gibt es gar nicht. Im Gegenteil, seit Jahren beobachten wir eine beispiellose Konzentration des Kapitals während die Bevölkerung einen immer härteren Kampf um Jobs und Zukunftsperspektiven erlebt.
Krisen, die Hebel der Geldvermehrung für die Reichen, wenn Staatseigentum wie beispielsweise in Griechenland privatisiert wird (siehe Flughäfen und Hafenanlagen in Griechenland). Keinen Plan. Und kein Verantwortungsbewusstsein.
https://twitter.com/m_obendorfer/status/752205943153238016
»Whatever the founding ideals of the eurozone, they don’t match up to the grim reality in 2015. This is Thatcher’s revolution, or Reagan’s – but now on a continental scale. And as then, it is accompanied by the idea that There Is No Alternative either to running an economy, or even to which kind of government voters get to choose.
The fact that this entire show is being brought in by agreeable-looking Wise Folk often claiming to be social democratic doesn’t render the project any nicer or gentler. It just lends the entire thing a nasty tang of hypocrisy.« AGreece is a sideshow. The eurozone has failed, and Germans are its victims too, Guardian
Alle berichten über marode italienische Banken, aber sind die wirklich das Problem?
Die #DeutscheBank hängt mit 55 Billionen Euro (55.000 Mrd.) an Derivaten im Schlamassel. Bei einer Eigenkapitalquote von 3%! ––Wie wünsche ich mir so eine Eigenkapitalquote. Was wäre nicht alles möglich, ließen die Banken diese Regeln auch für ihre Kunden gelten. Allein, die Realität – wie wir alle wissen –, sieht anders aus.
Und nun hätte sie gern 150 Milliarden Euro an staatlichen Zuschüssen. Geld vom Steuerzahler also, wegen der Systemrelevanz. Die im Fall der Deutschen Bank tatsächlich vorhanden ist, da kaum eine andere Bank mehr Verflechtungen im Bankenwesen aufzuweisen hat. Irgendwie krass.
Stellt sich die Frage: Was haben die Jungs und Mädels in den Banken und der Politik eigentlich seit Lehman Brothers genau gemacht? Das würde mich schon mal interessieren. Wie kann es sein, dass alles beim Alten geblieben ist, nur noch doller, größer und vor allem gefährlicher für alle anderen?
+++ Wohin nur mit dem Geld? +++
Warum jetzt, wo doch die Zinsen niedrig sind, kein Geld in Infrastruktur investieren? Richtige und wichtige Ideen skizziert Mark Schieritz in seiner Kolumne in der Zeit, Wohin nur mit dem ganzen Geld, wenn er schreibt:
»Wolfgang Schäuble hat es wieder geschafft. Zum dritten Mal hintereinander hat der deutsche Finanzminister einen Haushalt vorgelegt, der ohne frische Schulden auskommt. In normalen Zeiten wäre dies Anlass genug für ein Loblied auf den obersten Kassenwart, der sich wieder einmal gegen all seine Widersacher durchgesetzt hat. Die Frage ist nur: Wie normal sind die Zeiten?
»Das kann aber kein Grund dafür sein, einfach zur Tagesordnung überzugehen. Warum wurde beispielsweise noch keine Kommission eingesetzt, die Projekte identifiziert, die den Zustand der Welt verbessern würde – vielleicht sogar auf der Ebene der G 20? Wo bleiben die Initiativen gegen den Klimawandel oder für einen besseren Zugang zu Bildung und Ausbildung? Am Geld muss die Umsetzung jedenfalls derzeit nicht scheitern.
»Wir erleben derzeit zwar einerseits eine historisch wahrscheinlich beispiellose Ballung globaler Probleme. Doch weil die Finanzmärkte mangels alternativer Investitionsmöglichkeiten dem Staat Geld zum Nulltarif anbieten, eröffnen sich zugleich erhebliche politische Handlungsspielräume zur Lösung eben dieser Probleme. […] Doch eine Finanzpolitik, die auf der Höhe der Zeit sein will, würde diese einmalige Gelegenheit nutzen.« Mark Schieritz, Wohin nur mit dem ganzen Geld, die Zeit
+++ Viel Herz. Goldene Palme für Ken.
Es ist zwar schon ein paar Wochen her, aber im BREXIT-Chaos sollten wir nicht die wirklich wichtigen Dinge vergessen, um die es geht. Mehr Chancen, mehr Verteilungsgerechtigkeit. Kurz, ein besseres Leben für alle.
Für seine bewegende, politische Anklage menschenverachtender Verhältnisse – I, Daniel Blake –, ein Film über die Büroktatie, die englische Arbeitslose über sich ergehen lassen müssen, gewann Ken Loach in diesem Jahr die Goldene Palme von Cannes.
Schattierungen von Charles Dickens und George Orwell schimmern auf, in diesem mutigen, gefühlvollen Drama über einen behinderten Mann, der, erdrückt von Auflagen und Regulierungen um seine Selbstachtung kämpft. Und gewinnt. Ein großartiger Film.
Von Armut spricht auch die amerikanische Journalistin in ihrem mutigen, erschütternden Bericht über Gelegenheitsjobs und ihr eigenes Überleben — I Know Why Poor Whites Chant Trump, Trump, Trump
+++ Habermas über Demokratie +++
Leseempfehlung
+++ Theresa May (#BREXIT 2. Akt) +++
Mit Theresa May besteigt am Mittwoch eine weitere europäische Staatschefin den Thron ohne gewählt, ohne vorher demokratisch legitimiert worden zu sein. Neuwahlen sind denn auch wenig überraschend, nach ihren gestrigen Aussagen, nicht Mays drängendstes Anliegen.
https://twitter.com/BoingBoing/status/752482211245461505
»Theresa May’s conveniently short walk to Downing Street is designed to combat the impression that nobody is in control. But without a major change in policy, we are still rudderless on a churning financial sea.« Paul Mason, Guardian
As with Britain’s first female prime minister, May’s elevation represents a victory for some women, but they’re the women who need the least help. http://www.lrb.co.uk/blog/2016/07/11/dawn-foster/not-a-feminist-victory/ …
+++ TTIP wird weiter durchgedrückt +++
Verhandlungen TTIP in Brüssel wieder aufgenommen. In der 14. Verhandlungsrunde stehen u.a. Energie und Handel mit Rohstoffen zur Disposition.
TTIP Verhandlungen waren zuletzt vom Bekanntwerden geheimer Verhandlungspapiere belastet worden.
#PORFRA. Auch ohne Ronaldo
Entertainment vor dem Hintergrund politischer Demonstrationen
#PORFRA. Portugal gewinnt – auch ohne Ronaldo – seinen ersten EM-Titel. Éder schießt Potugal ins 1:0 gegen Frankreich nach Verlängerung.
Superkicker Ronaldo bereits in der 8. Minute verletzt, in der 25. unter Tränen auf einer Bahre vom Platz getragen, steht in der zweiten Halbzeit wild gestikulierend neben Portugals Trainer am Rand des Spielfelds, der Mannschaft Tipps zurufend, um sich dann am Spielende buchstäblich vor der Welt zu entblößen und unter Freudentränen, den Eimer abknutschend, mit gestältem Sixpack zu zeigen wie ein echter Gewinner aussieht. Großes Kino. Vor allem aber, mit mehreren 100 Millionen Euro Ablösesumme, Kapitalismus pur. Im Hintergrund – außerhalb der Fanmeile –, direkt hinter dem großen Display wird auf Demonstranten geschossen, mit Tränengas. Auf engagierte, mutige Menschen, die gegen eine Verschärfung der französischen Arbeitsmarktgesetze protestieren. Sie passen nicht ins Bild der Feierlichkeiten und folglich wird darüber auch kaum berichtet. Schade.
+++ Photo der Woche +++
Morning Roundup: Aufregen, Hals kriegen, Abschwellen
- Fußball-EM: DFB-Mannschaft raus, alles aus
- Böser Fußball, guter Fußball: Nationalpatrioten
- Guter Fußball, böser Fußball: Chauvis
- Zukunftsfähigkeit der Sozialsysteme
- Prime Minister’s Questions: Nullstundenverträge
- Filmreif (Argentinien)
- Schlechtes Drehbuch (Russland)
- Warschauer NATO-Gipfel
- NATO-Russland-Rat
Jetzt ist alles aus!
Für manche Zuschauer im Stadion und zu Hause an den Fernsehgeräten oder in der Fanzone könnte es daran gelegen haben, dass die deutschen Tugenden nicht genug zum Tragen kamen, weil zu viele „Ausländer“ mitgespielt haben. Für andere könnte es daran gelegen haben, dass nicht genug „Menschen mit Migrationshintergrund“ mitgespielt haben. Und für wieder andere – tendenziell die mit den deutschen Tugenden – könnte es daran gelegen haben, dass es inzwischen sogar schon Frauenfußball gibt. Der versaut die Moral. Im folgenden für alles mindestens ein Beispiel.
Böser Fußball, guter Fußball: Nationalpatrioten
Langer Rede kurzer Sinn: Ist der Fan ein Nationalpatriot mit Vorurteilen, ist er es nach dem Fahneschwenken noch mehr. Ist er keiner, ist sein Fahneschwenken kein Problem.
Nur nützen tut’s nie.
Guter Fußball, böser Fußball: Chauvis
Das nur mal für die Männer, die meinen, sie wären schon immer im Widerstand dafür gewesen.
Na? Haben Sie gelacht? Hand auf’s Herz. Nicht lügen, ganz ehrlich jetzt. Geben Sie’s zu? Geben Sie’s zu? Haben sie gelacht?
SPD-Linke: Zukunftsfähigkeit der Sozialsysteme
Zwischen der Parteilinken und Arbeitsministerin Andrea Nahles bahnt sich Zoff an, und Parteivorsitzer Gabriel pariert.
Ob Matthias Miersch auch diese unterschiedlichen Stimmungen aufnehmen und integrieren kann?
Prime Minister’s Questions, 6. Juli: Nullstundenverträge
Corbyn: Das Problem besteht darin, dass, wenn jemand in einem Nullstundenvertrag arbeitet, der Mindestlohn nicht für einen Wochenlohn zum Leben genügt. Das muss der Premierminister verstehen. Darf ich ihm die Lindsey-Ölraffinerie nordöstlich von Shirebrook vorstellen? 2009 streikten dort hunderte von Ölwerkern, weil agency workers aus Italien und Portugal zu niedrigeren Löhnen hereingebracht wurden, um die selbe Arbeit zu tun. Ein bisschen weiter die selbe Straße runter, in Boston, ist Niedriglohn endemisch. Der durchschnittliche Stundenlohn im Land ist 13,33 Pounds. In den East Midlands beträgt er 12,26 und in Boston 9,13 Pfund. Ist es nicht an der Zeit, dass die Regierung interveniert, um für die Gemeinschaften einzutreten, die sich im modernen Britannien zurückgelassen fühlen?
The problem is that if someone is on a zero-hours contract, the minimum wage does not add up to a living weekly wage; the Prime Minister must understand that. May I take him north-east of Shirebrook to the Lindsey oil refinery? In 2009, hundreds of oil workers there walked out on strike because agency workers from Italy and Portugal were brought in on lower wages to do the same job. Just down the road in Boston, low pay is endemic. The average hourly wage across the whole country is £13.33. In the east midlands, it is £12.26; in Boston, it is £9.13. Is it not time that the Government intervened to step up for those communities that feel they have been left behind in modern Britain?
Cameron: Wir haben mit dem Mindestlohn interveniert. Wir haben mit mehr Strafen für Unternehmen interveniert, die nicht den Mindestlohn zahlen. Wir haben – und das erstmals, was Labour nie tat – wir prangern die daran beteiligten Unternehmen namentlich an. Diese Interventionen helfen und ergeben einen Unterschied, aber die wirkliche Intervention, die wir brauchen, ist eine Wirtschaft, die wächst und die Investitionen ermutigt, denn wir wollen die Industrien der Zukunft. Das ist, was in unserem Land zu sehen ist, und das ist der Grund für Rekordzahlen an Beschäftigten – 2,5 Millionen mehr Menschen haben einen Job seit ich Premierminister wurde – und das ist der Grund, warum die britische Wirtschaft eine der stärksten der G7-Staaten ist.
We have intervened with the national living wage. We have intervened with more fines against companies which do not pay the minimum wage. We have intervened, and for the first time—this is something Labour never did—we are naming and shaming the companies involved. Those interventions help and can make a difference, but the real intervention that we need is an economy that is growing and encouraging investment, because we want the industries of the future. That is what can be seen in our country and that is why record numbers are in work—2.5 million more people have a job since I become Prime Minister—and why the British economy has been one of the strongest in the G7.
Filmreif (Argentinien)
Die frühere argentinische Präsidentin Cristina Fernandez de Kirchner wird beschuldigt, in ihren letzten Amtsmonaten betrügerische Währungsgeschäfte durchgeführt zu haben, meldete gestern die BBC. Im Mai wurde Anklage wegen mutmaßlicher oder angeblicher regelwidriger Zentralbankgeschäfte an der US-Dollar-Terminbörse gegen sie erhoben.
Sie wies die Vorwürfe zurück und beschuldigte ihrerseits die Mitte-Rechts-Regierung ihres Nachfolgers Mauricio Macri, gegen sie zu konspirieren. Cristina Fernandez war bis Dezember vergangenen Jahres Präsidentin Argentiniens. Gegen einige ihrer engsten früheren Mitarbeiter, werde wegen falscher Handhabung öffentlicher Mittel ermittelt, so die BBC.
Einer von ihnen, Jose Lopez, stehe unter dem Verdacht der Geldwäsche, seit er – im Besitz von neun Millionen US-Dollar dabei angetroffen worden sei, wie er Plastiktaschen mit Bargeldüber die Mauer eines Klosters warf. Insgesamt sei er im Besitz von etwa sieben Millionen US-Dollar gewesen, so eine frühere Meldung der BBC.
Der mit den Ermittlung beauftragte Bundesrichter Claudio Bonadio sei ein erklärter Gegner der früheren Präsidentin.
Die BBC zitierte den Kabinettschef Präsident Macris mit der Bemerkung, „es ist wie aus einem Film“.
In den vom Internationalen Konsortiums Investigativer Journalisten (ICIJ) im April veröffentlichten „Panama Papers“ war Präsident Macris Name aufgetaucht. Er werde mit jedweder Untersuchung zusammenarbeiten und habe nichts zu verbergen, so der Präsident in einer seinerzeitigen Meldung der BBC.
Die Untersuchung dauert laut „Buenos Aires Herald“ an.
Schlechtes Drehbuch (Russland)
Auch in Moskau wurde ein Politiker im mutmaßlichen Besitz von viel Bargeld verhaftet. Der „Economist“:
Es sah aus wie eine Szene aus einem Krimi. Erst die Bilder eines kräftigen russischen Gouverneurs, in einem Sushi-Restaurant eines mondänen Moskauer Hotels mit Bündeln besonders gekennzeichneter Euroscheine erwischt, die fluoreszierende Flecken auf seinen Händen hinterließen. Dann Fotos des selben Gouverneurs in Handschellen, abegführt von Kalashnikov-schwenkenden, sturmhaubengepanzerten Agenten des FSB, Russlands Geheimpolizei. Die Verhaftung Nikita Belykhs, des liberal gesonnenen Gouverneurs der Region Kirovsk am 24. Juni, war eine Schlagzeilenmeldung des russischen Staatsfernsehens. Er ging sogar dem Bericht über den triumphalen China-Besuch Vladimir Putins voraus.
IT LOOKED like a scene from a crime drama. First, the pictures of a burly Russian governor caught at a sushi restaurant in a swanky Moscow hotel, with wads of specially marked euros leaving fluorescent stains on his hands. Next, footage of the same governor in handcuffs, being escorted into the investigator’s office by balaclava-clad, Kalashnikov-wielding agents of the FSB, Russia’s secret police. The arrest on June 24th of Nikita Belykh, the liberal-minded governor of the Kirovsk region, was headline news on Russian state television. It even preceded the report on Vladimir Putin’s triumphal visit to China.
Belykh behaupte, es handle sich um ein abgekartetes Spiel, so der „Economist“, und Kirill Rogov, ein russischer politischer Analytiker, wird mit der Aussage zitiert, es handle sich bei der dritten Verhaftung eines Gouverneurs binnen fünfzehn Monaten „um die neue Art des Kremls, Kontrolle über regionale Eliten auszuüben“.
[…]
Die Verfolgung inländischer Feinde und die Säuberung der Reihen örtlicher Gouverneure und Offizieller könnte die Art sein, in der der Kreml dem Publikum [nach der Ukraine und Syrien] eine neue Story gibt. In dem Video der Verhaftung Belykhs, das die Staatsanwaltschaft freigab (bevor es hastig wieder vom Netz genommen wurde), wird eine Stimme hinter der Kamera vernehmlich die sagt: „Wir haben schon das Drehbuch geschrieben.“ Mr Belykh erwidert: „Ihr habt es schlecht geschrieben.“
Pursuing internal enemies and purging the ranks of local governors and officials may be the Kremlin’s way of giving audiences a fresh storyline. In a video of Mr Belykh’s arrest which the prosecutor’s office released (before hurriedly taking it down), a voice behind camera can be heard saying: “We’ve already written the script.” Mr Belykh replies: “You wrote it badly.”
Warschauer NATO-Gipfel
Die NATO-Mitgliedsstaaten sowie voraussichtlich Afghanistan, Finnland, Irland, Mazedonien, Montenegro, Schweden und die Ukraine halten am Freitag und Samstag ein Gipfeltreffen in Warschau ab. Polens Präsident und Gastgeber des Gipfels, Andrzej Duda, erklärte bereits im August vorigen Jahres in einem – hier durch AP wiedergegebenen – Interview mit der polnischen Nachrichtenagentur PAP, er erhoffe sich vom Gipfel eine Verstärkung der Präsenz des Bündnisses in Polen und über eine ganze Region hinweg, die sich durch ein „wiederauflebendes“ Russland bedroht fühle. Als Opponenten gegen solche NATO-Stationierungsbestrebungen erwähnte er laut AP namentlich Deutschland.
Und die polnischen Erwartungen bleiben groß – oder werden zumindest öffentlich derart vorgetragen. Der Warschauer Gipfel werde die „Ostflanke“ stabilisieren, die Position der NATO in Gesprächen mit Russland stärken, und einen russischen Rückzug aus den Gebieten bewirken, die Russland illegal von der Ukraine genommen habe, zitierte Radio Poland am vorigen Freitag den Außenminister des Landes, Antoni Macierewicz.
NATO-Russland-Rat
Wenn dann Polen mit Hilfe der NATO den Russen gezeigt hat, wer der Boss ist, darf der Russe am 13. Juli in Brüssel die Kapitulationsurkunde unterschreiben – bei einem Treffen des NATO-Russland-Rates.
Da soll nochmal jemand behaupten, die Musik spiele jetzt in Asien.
Guten Morgen.
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Morning Roundup: Das Establishment im Krieg gegen die Welt
- Der Chilcot-Report
- »Wanna Bomb Iraq?« Pressestimmen zum Chilcot-Report
- Wikileaks War.Diaries
- David Graeber erklärt den »Chicken Coup« gegen Jeremy Corbyn
- Paul Masons #BREXIT-Diary bringt Ordnung in das politische Chaos
Sir John Chilcots lang erwarter Bericht zum Irak-Krieg liegt nach 7-jähriger Arbeitszeit seit gestern nun endlich vor.
Was schon vage vermutet wurde, hat sich bestätigt: Der Irak-Krieg, ein Fall der grundlosen, voreiligen Bündnistreue. Internationale Stimmen fordern Konsequenzen, u. a. dass sich der damalige Premierminister Tony Blair vor einem internationalen Gerichtshof verantworten solle.
The Intercept berichtet Tony Blair hätte George W. Bush zu Kriegsbeginn gesagt: »Wenn wir schnell gewinnen, werden alle auf unserer Seite sein.«
Eine ausführliche Themenseite im Guardian zum Chilcot-Report.
Vor dem Hintergrund innenpolitischer Machtkämpfe innerhalb der Labour-Party ist die Rede Jeremy Corbyns aus dem Jahr 2003 irgendwie echt hörenswert. Corbyn leidenschaftlich dagegen damals …
Und heute. Hier, Jeremy Corbyns epochale Rede gestern, in der er sich für Blairs Politik entschuldigte. Wahre Größe.
+++ WarDiaries.Wikileaks.org +++
Zu Recherchezwecken für Reporter und Blogger, Links zur Wikileaks Database. Die Irak- und Afghanistan-Tagebücher, veröffentlicht von Wikileaks am 22.Oktober 2010, bestehen aus 391,000 Dokumenten zum Krieg im Irak (2004 bis 2009) und Afghanistan (2004 bis 2009).
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+++ »Wanna Bomb Iraq?« +++ Pressestimmen zum Chilcot-Report:
+++ David Graeber erklärt den »Chicken Coup« +++
In seinem sehr sehr lesenswerten Guardian-Artikel, The elites hate Momentum and the Corbynites, klagt einer der engagiertesten aller Intellektuellen, der Anthropologe David Graeber, das britische Establishment an.
Er zeigt Gründe auf, für die erbitterten Fronten gegen den linken Labour-Leader Jeremy Corbyn, spricht gar von einem Paradigmenwechsel in der Politik. Jeremy Corbyn stünde als einziger nicht für selbstreferenzielle Machtpolitik der privilegierten Oberschicht; nicht für Geld und personenbezogene Lobby-Politik der durchsetzungsfähigsten Interessen. Sondern ganz im Gegenteil, für David Graeber verkörpert Jeremy Corbyn das Solidarische der Labour Partei. Corbyn stünde, laut Graeber, für eine Labour-Partei, deren Wurzeln in einer sozialen Bewegung liegen. Gegründet nicht von Politikern und Technokraten der Macht, sondern von Menschen getragen von dem Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit und einem menschenwürdigen Leben für alle.
The movement that backed the Labour leader challenges MPs and journalists alike – because it’s about grassroots democracy.
As the rolling catastrophe of what’s already being called the “chicken coup” against the Labour leadership winds down, pretty much all the commentary has focused on the personal qualities, real or imagined, of the principal players.
Yet such an approach misses out on almost everything that’s really at stake here. The real battle is not over the personality of one man, or even a couple of hundred politicians. If the opposition to Jeremy Corbyn for the past nine months has been so fierce, and so bitter, it is because his existence as head of a major political party is an assault on the very notion that politics should be primarily about the personal qualities of politicians. It’s an attempt to change the rules of the game, and those who object most violently to the Labour leadership are precisely those who would lose the most personal power were it to be successful: sitting politicians and political commentators.
If you talk to Corbyn’s most ardent supporters, it’s not the man himself but the project of democratising the party that really sets their eyes alight. The Labour party, they emphasise, was founded not by politicians but by a social movement. Over the past century it has gradually become like all the other political parties – personality (and of course, money) based, but the Corbyn project is first and foremost to make the party a voice for social movements once again, dedicated to popular democracy (as trades unions themselves once were). This is the immediate aim. The ultimate aim is the democratisation not just of the party but of local government, workplaces, society itself. (…)
Klug analysiert Graeber die politischen Worthülsen und deutet die Floskeln als das, was sie sind: Entlarvende Offenbarungen einer verantwortungslosen Regierung.
Even the language used by each side reflects basically different conceptions of what politics is about. For Corbyn’s opponents, the key word is always “leadership” and the ability of an effective leader to “deliver” certain key constituencies. For Corbyn’s supporters “leadership” in this sense is a profoundly anti-democratic concept. It assumes that the role of a representative is not to represent, not to listen, but to tell people what to do.
Graeber bezieht in seine Kritik ausdrücklich die Journalisten und Medienschaffenden mit ein, wenn er schreibt:
After all, insofar as politics is a game of personalities, of scandals, foibles and acts of “leadership”, political journalists are not just the referees – in a real sense they are the field on which the game is played. Democratisation would turn them into reporters once again, in much the same way as it would turn politicians into representatives. In either case, it would mark a dramatic decline in personal power and influence. It would mark an equally dramatic rise in power for unions, constituent councils, and local activists – the very people who have rallied to Corbyn’s support.
+++ Paul Masons #Brexit-Diary – bringt Ordnung in das politische Chaos +++
Morning Roundup: „Die Regierung muss erklären, wie der Brexit funktioniert“
Heute:
- Morgige Tory-Wahlen
- Boris Johnson fürchtet Trauerwelle
- Neuer Chef für Chinas Internet
- Neue Intendantin bei RBB
- Zuschauen-Entspannen-Nachdenken
- Der letzte Sultan
- Kurzmeldungen
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Tories suchen Cameron-Nachfolger
Manches spricht dafür, dass Theresa May es wird. Sie redet nämlich schon wie eine (Premierministerin): sie bereitet sich bzw. ihre Agenda auf die Zeit nach ihrer Wahl vor. Es brauche „mehr als einen Brexit-Premierminister“, so May. Also nicht so, wie wir das bei Boris Johnson gelernt haben.
Am Dienstag beginnt die Unterhausfraktion der Konservativen Partei ihre Nominiertenwahlen. Es wird im Ausschlussverfahren so lange gewählt, bis von den fünf angetretenen Kandidaten nur noch zwei übrigbleiben – zwischen den Wahlrunden allerdings bleibt viel Zeit fürs Nachdenken, Planen und Kungeln. Die darauf folgende Wahlrunde ist auf den kommenden Donnerstag festgesetzt. Das geht dann abwechselnd dienstags und donnerstags so lange weiter, bis die Parteibasis unter den zwei Kandidaten, die mit den meisten Stimmen übrigbleiben, wiederum ihre Wahl treffen kann.
Denkbar ist aber auch, dass ein Kandidat gleich in der ersten Wahlrunde am Dienstag bestimmt wird; dann nämlich, wenn er oder sie gleich bei dieser ersten Gelegenheit eine absolute Mehrheit erhält.
Die Briefwahl der Basis endet fahrplanmäßig am 8. September, und am 9. September soll der neue Parteiführer (und damit auch künftige Premierminister) verkündet werden.
Es ist laut „Guardian“ das erste Mal, dass die Parteibasis zur Wahl (mit) aufgerufen ist.
Und morgen reden wir darüber, wie die oppositionelle Labour-Partei ihren neuen (oder alten) Parteichef wählt.
Boris Johnson fürchtet Trauerwelle
Es sei höchste Zeit, dass die britische Regierung der Öffentlichkeit erkläre, wie der Austritt aus der EU im Interesse des Vereinigten Königreichs funktionieren könne, so Boris Johnson in einer ersten öffentlichen Äußerung nach seinem Rückzug aus dem parteiinternen Wahlkampf.
Es bestehe sonst die Gefahr, dass die Art und Weise, wie die Remainers die (aus ihrer Sicht tendenziell finstere) Zukunft des UK außerhalb der EU darstellten, in der Öffentlichkeit zu einer „ansteckenden Trauer“ führe, wie 1997 nach dem Unfalltod der Prinzessin Diana.
Wir erinnern uns: damals wäre die Queen fast auf dem Schafott gelandet, weil sie nicht mitheulte.
Chinas Internet erhält neuen Chef
Lu Wei, stellvertretender Direktor der Propagandaabteilung der KP Chinas und bis vor kurzem Chef des Allgemeinen Büros der Zentralen Führungsgruppe für Internetsicherheit und Informatisierung (gleichbedeutend mit der Funktion als Chef der Cyberspace Administration of China), hat offenbar erheblich an Einfluss verloren. Laut einer Meldung der Hong Konger Zeitung „South China Morning Post“ am vorigen Mittwoch musste er letztere Funktion an Xu Lin, einen engen Verbündeten des Partei- und Staatschefs Xi Jinping, abgeben. Ein herber Schlag für den Mann, der bei „Facebook“ VIP-Status besaß, ohne dort (oder vielleicht doch?) ein Profil zu haben.
Inhaltlich dürfte es zwischen Lu Wei, in dessen Amtszeit die bisher größten Kontrollverschärfungen des Internets fielen, und Xi Jinping keine großen Differenzen gegeben haben. Man kann davon ausgehen, dass Xi Wert auf einen Chefadministrator für das Internet legt, auf dessen persönliche Loyalität er sich hundertprozentig verlassen kann.
Im Juli vorigen Jahres hatte Lu Wei Berlin besucht und war dabei laut dem Hong Konger Medienkonzern „Phoenix“ mit Bundesinnenminister Thomas de Maizière und dem Staatssekretär im Bundeswirthschaftsministerium Matthias Machnig zusammengetroffen. Während seines Besuchs äußerte er dem „Phoenix“-Bericht zufolge unter anderem die chinesische Überzeugung, Vertrauen sei die Grundlage für Sicherheit.
Für seine Ablösung durch einen Xi-Vertrauten dürfte er also volles Verständnis haben.
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Oberster Internet-Polizist tritt zurück, SRF, 01.07.16
Dagmar Reim, RBB-Intendantin 2003 – 2013
Sie war die erste Frau an der Spitze einer öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt in Deutschland, und sie war die erste Chefin des 2003 gerade erst neu gegründeten Senders Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB). Ihre zweite Amtszeit, die fahrplanmäßig bis 2018 gedauert hätte, beendete sie Ende Juni vorzeitig.
Im Gespräch mit Jörg Wagner, Moderator des RBB-„Medienmagazins“, verteidigte Reim noch einmal ihre vielleicht umstrittenste Entscheidung – die Schließung des RBB-Zweigsenders „Radio Multikulti“ Ende 2008:
Radio Multikulti war eine wunderbare Idee, aber sie hatte niemanden, der sich für sie interessierte. Es gab keine Hörerinnen und Hörer, es gab – aus meiner Beobachtung damals – zwei unterschiedliche Typen von Migrantinnen und Migranten. Die einen, die hier sehr gut angekommen waren, die sagten, „mein Programm heißt Inforadio oder Radio Eins“, und die anderen, die mit großer Selbstverständlichkeit die Medien aus ihrer Heimat hörten. Heute halte ich es für ebenso falsch, ein Programm für Migrantinnen und Migranten aufzulegen. Alle Flüchtlinge, die ich kenne, informieren sich über ihre Smartphones. Und da machen ARD und ZDF gemeinsam mit der Deutschen Welle, dem Goethe-Institut große Anstrengungen, um adäquate Programme anzubieten. Da sind wir mit dabei, das finde ich gut.
Es gibt noch einen großen Gewinn für den RBB, aus der Einstellung von Radio Multikulti. Alle Kolleginnen und Kollegen, die journalistisch arbeiten, wissen: wir haben die Verpflichtung, einer großen multikulturellen Metropole gerecht zu werden. Die Themen kann niemand von uns abschieben in ein Sendeformat namens „Multikulti“. Wir müssen überall eine große Rolle spielen, und weil zum Beispiel in der Abendschau heute ein türkischstämmiger Journalist verantwortlich ist für gr0ße und wichtige Sendeteile, hat sich auch dort das Bewusstsein für diese Themenlage verändert, und ich bin nach dreizehn Jahren auch froh darüber, dass es jetzt mehr Menschen vor unseren Kameras gibt, die nicht so aussehen wie Sie und ich.
Nachfolgerin Reims ist die niedersächsische Journalistin Patricia Schlesinger.
Weiches Thema: ZEN
Wo gerade die Rede davon war: Multikulti gab’s schon vor einem Vierteljahrhundert auf allen Rundfunkkanälen. Zuschauen – Entspannen – Nachdenken. Zur Frühstückspause. Zum Volkshochschulkurs. Zum Einschlafen.
Historischer Kalender: Der letzte Sultan
Mehmed VI. wurde am 4. Juli 1918 als 36. Sultan und 100. Kalif des Osmanischen Reiches inthronisiert. Er war gleichzeitig der letzte Sultan. Im Kalifat gab es allerdings noch einen Nachfolger: Abdülmecid II.
Kurzmeldungen
Brüssel dürfe keine weiteren Kompetenzen an sich ziehen, zitierte Radio Prag, der tschechische Auslandsdienst, am Sonntag den Premierminister des Landes, Bohuslav Sobotka.
Das chinesische Unternehmen Midea kommt laut Deutsche Welle der Übernahme des Roboterherstellers Kuka deutlich näher: der Technologiekonzern Voith wolle seine Kuka-Anteile an Midea verkaufen.
Und der frühere britische Premierminister Tony Blair findet, Großbritannien solle sich beim Brexit alle Optionen offen lassen. Gefragt, ob das ein zweites EU-Referendum bedeute, antwortete er und sprach:
Es bedeutet was immer wir entscheiden, das es bedeuten soll, während wir die Entwicklung dieser Debatte verfolgen. (It means whatever we decide it should mean as we see how this debate develops.)
Guten Morgen.
Heseltine über Johnson: „Beim Anblick des Schlachtfelds abgehauen“
Heute:
- Hundertster Jahrestag der Somme-Schlacht
- Fünf Tory-Kandidaten: der nützliche Idiot kann gehen
- Post-Brexit: mehr als zwei Optionen
- COSCO kauft den Hafen von Piräus
- Rechtswissenschaftliches zum Südchinesischen Meer
- Taiwanisches Arbeitsgesetz
- Ostafrikanische Massenmedien, digitalisiert
- Podemos
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Hundertster Jahrestag der Somme-Schlacht
An verschiedenen Orten Großbritanniens und Nordirlands wird seit gestern der Schlacht an der Somme gedacht. Heute früh um 07:28 britischer Zeit sollen zwei Schweigeminuten eingelegt werden. Die Somme-Schlacht gilt als die schlimmste in der britischen Militärgeschichte.
Während in Deutschland und Frankreich die Erinnerung an Verdun stärker ist, ist es im Vereinigten Königreich die Schlacht an der Somme. Hugh Schofield, BBC-Korrespondent in Frankreich, nennt Statistiken, denen zufolge es an der Somme etwa zweihunderttausend französische Tote und Verletzte gab, und jeweils vierhunderttausend britische und deutsche. Das hatte sowohl damit zu tun, dass an der alliierten Offensive rund zwei Drittel der Beteiligten Briten waren – ein Großteil der ursprünglich eingeplanten französischen Streitkräfte wurde nach Verdun abgezogen -, als auch mit der zweijährigen Kriegserfahrung der Franzosen und weniger ausgebauten Verteidigungsanlagen der deutschen Truppen in ihrem Abschnitt.
Letztlich habe Verdun auf den Verlauf des Ersten Weltkriegs kaum Einfluss gehabt – die Somme-Schlacht hingegen schon. Sie habe die deutsche OHL von der wachsenden Stärke der Alliierten überzeugt, zum deutschen U-Boot-Krieg geführt und damit letztlich Amerika mit in den Krieg gebracht.
Dass Franzosen oft nichts von der Somme-Schlacht wissen, begründet der von Schofield zitierte französische Historiker Stéphane Audoin-Rouzeau damit, dass Verdun besser ins Narrativ sowohl eines Verteidigungskriegs auf Leben und Tod passte, als auch in die Geschichte eines neuen Europas, das auf französisch-deutsche Versöhnung gebaut habe. Die Erinnerung an die Somme-Schlacht sei komplizierter, weil Frankreich sie zusammen mit britischen Streitkräften bewältigt habe.
Etwas angefressen auf Schofields Bericht reagiert der konservative französische „Figaro“ in einer Presseschau – nicht zuletzt auf die Ansage Schofields, dass Präsident Hollande zwar an seiner in letzter Minute zugesagten Teilnahme an einer Erinnerungszeremonie verhindert war, aber immerhin Premierminister Valls entsandt habe – vielleicht, damit keine Lücke entstand, die im Licht des Brexit-Referendums wie eine Brüskierung hätte aussehen können, während die Episode doch in Wirklichkeit die relative Bedeutungslosigkeit der Somme-Schlacht in der französischen nationalen Erinnerung ausdrücke.
Dass Schofield sich bei der These der relativ untergeordneten Erinnerung auf einen französischen Historiker bezieht, wird dem Leser des „Figaro“ taktvoll verschwiegen. Dass Schofield sich überhaupt auf die Angaben und Einschätzungen von Fachleuten stützt, erwähnt der „Figaro“ nur im letzten Satz, und in Verbindung mit der größeren Bedeutung Verduns als französische Verteidigungsschlacht gegen Deutschland.
„Atout France“, die Website der Französischen Zentrale für Tourismus, bietet eine deutschsprachige Übersicht und weiterführende Links über die Gedenkstätten zu Ehren der Alliierten und zu den Gedenkveranstaltungen zum hundertsten Jahrestag.
Fünf Kandidaten für Tory-Führung: der nützliche Idiot kann gehen
Der „Guardian“ stellt die fünf Kandidaten vor, die David Cameron als Parteiführer und Premierminister beerben wollen: Theresa May, Liam Fox, Michael Gove, Stephen Crabb and Andrea Leadsom.
Nicht dabei ist Boris Johnson. Folgt man der Darstellung der „Washington Post“, wurde der Königsmörder seinerseits gemeuchelt: von seinem bis dahin getreuen Wahlkampfmanager Michael Gove. Trotzdem stellt die WaPo Gove nicht als Ferkel dar: dieser habe möglicherweise aus Überzeugung gehandelt, denn im Gegensatz zu ihm gelte Johnson nicht just als Überzeugungs-Brexiter.
Die Eignungsbescheinigung zum ultimativen Exekutor des Volkswillens stellte sich Gove in einem Interview mit der BBC gleich selbst aus: jemand, der „mit Herz und Seele“ an den Brexit glaube, müsse die Partei führen und Premierminister werden.
Ein Senior der britischen Politik, der frühere Verteidigungs- und Industrieminister Michael Heseltine (und Margaret Thatchers Königsmörder, im November 1990), tritt Johnson nochmal ordentlich hinterher:
Er ist wie ein General, der seine Armee zum Lärm der Waffen führt und beim Anblick des Schlachtfelds abhaut. Ich habe noch nie eine derart verachtenswerte und verantwortungslose Situation gesehen.
Im Gegensatz zu Boris Johnson allerdings hielt Heseltine bis zum vorletzten Wahlgang der Tories seine Kandidatur aufrecht, bevor er im Sinne der Parteieinheit John Major Platz machte. Sein Motiv: eher pro-EU bzw. EG als Thatcher, und weniger sozialbrutal.
Der London-Korrespondent des Deutschlandfunks, Friedbert Meurer, behandelt Johnson nicht viel freundlicher (er beschimpft Johnson zwar nicht selbst, zitiert aber dafür eine Parteifreundin). Hilfreicherweise beschreibt Meurer das von Heseltine so bezeichnete „Schlachtfeld“ jedoch ein bisschen näher:
… aber es gibt auch Hinweise, dass Johnson von einflussreichen Tories, Parteispendern und selbst vom Verleger Rupert Murdoch bedeutet wurde: Wir unterstützen dich nicht. Johnson war klug genug, die Konsequenzen daraus zu ziehen.
Boris Johnson (oder jeder Kandidat) ohne Murdoch wäre wie Christian Wulff ohne „Bild“.
Post-Brexit: mehr als zwei Optionen
Kai Ehlers, Hamburger Journalist und Schriftsteller, versuchte sich am Mittwoch an einer Skizze. Mehr EU-Zentralismus einerseits oder nationalistische Kleinstaaterei andererseits seien die zwei ausschließlichen geschichtlichen Ausgänge, vor denen die Europäer scheinbar, aber eben nur scheinbar stünden:
Nein, das sind schon lange nicht mehr die Alternativen. Forderungen nach Autonomie sind in der EU heute keineswegs nur nationalistisch, fremdenfeindlich oder gar rassistisch orientiert. Man denke nur an die Schotten oder die Katalanen. Seit Jahren und mit zunehmender Erweiterung und in wachsendem Maße entwickeln engagierte Demokraten Ideen, Vorschläge, Pläne und Aktivitäten für ein Europa selbst bestimmter Völker und Regionen, anstelle einer bürokratischen EU der „Institutionen“. […]
Erster Schritt laut Ehlers: neues Denken. Oder in seinen Worten:
In der Perspektive persönlicher, lokaler und regionaler Selbstermächtigung ist der Staat nicht mehr die Gewalt- und Kontroll-Instanz, die aus dem Machtmonopol eines anonymisierten Apparates heraus Anweisungen gibt, wie die Menschen zu leben haben, was ihnen zuzuteilen ist oder was nicht usw., an den, um auch das nicht zu vergessen, die Sorge für das Gemeinwohl abgegeben wird, sondern er ist Helfer, der aus der föderativen Kooperation von selbstbestimmten Gemeinschaften, Kommunen und Regionen hervorgeht. Das schließt gemeinsame Entwicklungs- und Überlebensinteressen aller Menschen und ihrer Lebenswelten natürlicherweise mit ein. […]
COSCO kauft den Hafen von Piräus
Das chinesische Logistikunternehmen COSCO übernimmt 51 Prozent der Anteile am in der Privatisierung befindlichen Hafenanlagen von Piräus. Weitere sechzehn Prozent sollen binnen fünf Jahren erworben werden. COSCO verpflichtete sich laut DLF zu Investitionen im Umfang von 350 Millionen Euro in den Hafen.
Die Abmachung mit COSCO erfolgte im April im Rahmen eines umstrittenen Privatisierungsprogramms.
Rechtswissenschaftliches zum Südchinesischen Meer
Ein Jura-Professor der Hofrstra University in New York, Julian Ku, setzt sich mit chinesischen Argumenten zur anstehenden Entscheidung des Ständigen Schiedshofs in Den Hag über chinesisch-philippinische Differenzen hinsichtlich der Spratly-Inseln*) auseinander.
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*) Vergleiche „Morning Roundup“, 11.06.16, Philippinen gegen China.
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Taiwanische Gewerkschafter protestieren gegen Arbeitsgesetz
„Über 100 Gewerkschaftsvertreter aus ganz Taiwan“ protestierten am Donnerstag gegen ein von der DPP-Regierung ausgearbeitetes neues Arbeitsgesetz, meldete gestern Radio Taiwan International (RTI). Angesichts dessen, was die Gesetzgebung vorsieht, sind gut hundert Protestierer allerdings nicht viel. Ohnehin sieht der Arbeitsalltag in vielen Taiwaner Unternehmen sehr viel unfreundlicher aus als das, was auf geduldigem Papier steht.
Ostafrikanischer Mediengigant will auf die Mobiltelefone
(Ex-)Auslandssender wie die Deutsche Welle oder Russlands Auslandsfunk (jetzt Sputnik / RT etc.) machen das schon länger so: Kurzwellensender verschrotten und ran ans Internet. Die Nation Media Group (NMG) in Kenia will auf die mobilen digitalen Endgeräte, und schließt dafür (zunächst) drei Radio- und Fernsehstation. Leitmotiv: „Digital/Mobile First“. NMG ist in Kenia, Uganda, Tansania und in Ruanda vertreten.
Podemos kann nicht alles
Erklärungsansätze, warum Podemos bei den spanischen Parlamentswahlen am 26. Juni seine Wahlziele nicht erreichen konnte, bietet Conrad Lluis Martell im „Freitag“.
Guten Morgen.
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Von Kosten und Schattenseiten
Der große, deutsche Autor Navid Kermani reagiert auf das #BREXIT-Meltdown mit einem gigantischen Gastbeitrag: Auf Kosten unserer Kinder; – lesen lesen – in der FAZ v. 29.06.2016. Klug, voller Güte und Menschlichkeit spitzt Kermani in seinem Essay das Drama des jahrzehntelangen Politikversagens auf die Jugend und zukünftige Generationen zu.
»Auf den Weg gebracht und ausgearbeitet war der Verfassungstext von einer Generation, welche die Abgründe des Nationalismus physisch durchlitten hatte oder mindestens, wie die Achtundsechziger, mit Blick auf den Zweiten Weltkrieg politisch sozialisiert worden war. Hingegen ausgeführt, öffentlich kommentiert und durch Desinteresse zum Scheitern gebracht wurde der Verfassungsprozess von meiner Generation, die die Notwendigkeit Europas nicht mehr biographisch erfahren hat: Sie weiß die Vorzüge Brüssels größtenteils zu schätzen, sieht die Vorteile eines gemeinsamen Vorgehens in der globalisierten Welt, aber hat zu Europa ein instrumentelles Verhältnis. […]
Auch während der Finanzkrise argumentierten Europas Politiker rein utilitaristisch, wie es einprägsam die Formel der Bundeskanzlerin ausdrückte: „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa.“ Aber ist der Euro wirklich das Fundament, auf dem Europa steht? Es mag sein, dass Aktien und Exporte einbrächen ohne die gemeinsame Währung. Aber glauben wir deshalb an Europa, weil uns der wirtschaftliche Nutzen überzeugt? War da nicht mehr? So etwas wie Freiheit, Emanzipation und Teilhabe aller Menschen am Gemeinwesen gleich welchen Geschlechts, welcher Herkunft, Religion oder sexuellen Orientierung? […]
»Stattdessen wurden und werden die Krisen, die der Schwächung Europas geschuldet sind, zum Argument genommen oder sogar bewusst befördert, um Europa weiter zu schwächen – ein Teufelskreis, in den die EU während der Flüchtlingskrise nicht zum ersten Mal geraten ist. Auch Deutschland wurde eine solidarische Flüchtlingspolitik schließlich erst dann zum Anliegen, als es selbst die Lasten zu tragen hatte.«
»Als Schriftsteller bin ich regelmäßig zu Gast in Schulen, und ich spreche dann fast immer auch über Europa. Ich sage nicht, dass Europa den Schülern eine Lehrstelle oder einen coolen Job besorgt. Ich weise nicht darauf hin, wie angenehm es ist, ohne Pass zu reisen oder kein Geld wechseln zu müssen. Auf die handfesten Vorteile Europas kommen die Schüler alle von selbst, ohne sich von Europa zu viel zu versprechen, also die Lehrstelle oder den coolen Job. Ich rede auch nicht vom Frieden. Das wissen alle, dass Europa dem Kontinent Frieden beschert hat – aber niemand würde mir glauben, wenn ich wie der panisch gewordene britische Premier drohte, dass ohne Europa wieder Krieg herrschte. Ich erzähle nicht, wie es früher war, noch zu meiner Schulzeit, als meine Klassenkameraden beim Austausch mit der Partnerschule in Lothringen Schwierigkeiten hatten, eine französische Gastfamilie zu finden, weil die Großeltern keinen Deutschen im Haus haben wollten, während ich als Einwandererkind überall gern aufgenommen wurde. Dass sie in Frankreich ungern gesehen werden, erschiene jungen Deutschen von heute doch sehr theoretisch.«
»Überlegt mal, was wäre, wenn Deutschland sich wieder als Volksgemeinschaft verstünde. Oder Frankreich. Oder England. Würde das eure Realität abbilden, die Gesellschaft, in der ihr aufgewachsen seid? Überlegt mal, was ein Europa der Vaterländer bedeuten würde, von dem die Rechtspopulisten immer reden: Wie viele von euch gehörten dann nicht mehr dazu?«
»Es entsteht sofort ein Gespräch, zumal die kulturelle Vielfalt der heutigen westeuropäischen Gesellschaften nur der Anfang ist. Denn ich frage die Schüler auch, ob sie ernsthaft wollen, dass Homosexualität wieder diskriminiert würde und jemand ihnen vorschreibt, wen sie wann und wie zu lieben haben. Ob sie in der Schule ausschließlich deutsche Literatur lesen wollen, erklärt nur von Deutschen? Ob sie den Klimawandel für eine Erfindung halten, über die Einführung der Todesstrafe nachdächten oder die Gewaltenteilung abschaffen wollten?«
Und ein paar übergeordnete Gedanken zum Austritt formuliert Navid Kermani im Deutschlandfunk-Interview:
»Nicht jeder, der gegen Europa ist, ist ja Nationalist oder Rassist sogar. (…) Das Problem ist und das zeigt sich doch jetzt auch wieder sehr klar im britischen Wahlkampf: Sie bekommen den Nationalismus, die Rückkehr zur Nation nicht ohne ihre Schattenseiten. […] Aber wir haben einen Europäischen Gerichtshof, wir haben den Straßburger Gerichtshof und wir haben vor allem europäische Werte, die gerade nicht national sind. Es geht ja nicht darum, die Nationen abzuschaffen. Das wäre ja ganz schrecklich, wenn die Deutschen nicht mehr Deutsche wären, die Franzosen nicht mehr Franzosen. Unsere Kultur, die besticht ja gerade durch ihre Vielfalt. Aber was Europa geschafft hat: Es hat die Nationalstaaten politisch entschärft. Es hat ihnen die Reißzähne genommen und sie dadurch auch wieder attraktiv gemacht. Dass wir heute so jubeln können, wenn Deutschland gewinnt, das hat doch auch gerade damit zu tun, mit der Verankerung in Europa. Das heißt, gerade in Europa können wir auch die Kulturen pflegen. Wir können unsere Heimat wertschätzen, wir können sie lieben. In dem Augenblick, wo es Europa nicht gäbe, würde all das wieder sehr, sehr gefährlich werden, weil wir dann diejenigen definieren würden, die nicht dazugehören. Genau dafür brauchen wir Europa und genau dafür brauchen wir Europa umso mehr in der Zukunft, weil diese Gesellschaften ja nicht monokultureller werden.«
* Navid Kermani setzt sich für Menschenrechte und europäische Flüchtlingsrechte ein. 2015, auf dem Höhepunkt der europäischen Flüchtlingskrise, reiste er entlang der Flüchtlingsrouten und berichtete von seinen Erlebnissen in einem beeindruckenden Buch: Einbruch der Wirklichkeit nannte er es. Kermani ist Fiedenspreisträger des deutschen Buchhandels, – für das Jahr 2015. Seine großartige, politikkritische, gleichwohl doch immer humanistische Paulskirchenrede zum Nachhören.
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