Morning Roundup (2): Wochen, die sich wie Jahre anfühlen
- Andauernde Bankenkrise
- Bankenbailout 2.0: Deutsche Bank Chef träumt von 150 Mrd. Geldspritze
- Gute Ideen. Wohin bloß mit dem vielen Geld?
- Viel Herz. Goldene Palme für Ken Loach mit I, Daniel Blake
- Jürgen Habermas über Demokratie
- #BREXIT 2. Akt. Theresa May übernimmt Camerons Job
- TTIP wird weiter durchgedrückt
- #PORFRA. Auch ohne Ronaldo. Millionenablöse für Fussballstars, im Hintergrund Tränengaswolken für Demonstranten
- Foto der Woche
»What political economists worry about, however, is the absence of a plan. Or a leadership. Or whether the public has consented to be governed by an elite that no longer understands what it is doing.« Paul Mason, Guardian
Im achten Jahr der historischen Lehman Brothers Bankenpleite zeigt sich überdeutlich, Regierungs-, Finanz- und Bankenkrisen haben eines gemeinsam: Sie werden von sogenannten Experten ausgelöst, die keinen Plan haben. Technokraten der Macht und semi-religiöse Ideologen eines Glaubens an Wachstum und magische Geldvermehrung. Experten deregulierter Märkte, die über ein halbes Jahrhundert predigten, dass, wenn es nur den Reichen gut genug ginge, es für alle reichen würde. Der illusionäre „Trickle-Down-Effekt“ sorge am Ende schon dafür, dass allen genug für ein menschenwürdiges Dasein bliebe.
Nun stellt sich plötzlich heraus, nein, es stimmt nicht. Es ist nicht genug für alle da. Den „Trickle-Down-Effekt“, den gibt es gar nicht. Im Gegenteil, seit Jahren beobachten wir eine beispiellose Konzentration des Kapitals während die Bevölkerung einen immer härteren Kampf um Jobs und Zukunftsperspektiven erlebt.
Krisen, die Hebel der Geldvermehrung für die Reichen, wenn Staatseigentum wie beispielsweise in Griechenland privatisiert wird (siehe Flughäfen und Hafenanlagen in Griechenland). Keinen Plan. Und kein Verantwortungsbewusstsein.
https://twitter.com/m_obendorfer/status/752205943153238016
»Whatever the founding ideals of the eurozone, they don’t match up to the grim reality in 2015. This is Thatcher’s revolution, or Reagan’s – but now on a continental scale. And as then, it is accompanied by the idea that There Is No Alternative either to running an economy, or even to which kind of government voters get to choose.
The fact that this entire show is being brought in by agreeable-looking Wise Folk often claiming to be social democratic doesn’t render the project any nicer or gentler. It just lends the entire thing a nasty tang of hypocrisy.« AGreece is a sideshow. The eurozone has failed, and Germans are its victims too, Guardian
Alle berichten über marode italienische Banken, aber sind die wirklich das Problem?
Die #DeutscheBank hängt mit 55 Billionen Euro (55.000 Mrd.) an Derivaten im Schlamassel. Bei einer Eigenkapitalquote von 3%! ––Wie wünsche ich mir so eine Eigenkapitalquote. Was wäre nicht alles möglich, ließen die Banken diese Regeln auch für ihre Kunden gelten. Allein, die Realität – wie wir alle wissen –, sieht anders aus.
Und nun hätte sie gern 150 Milliarden Euro an staatlichen Zuschüssen. Geld vom Steuerzahler also, wegen der Systemrelevanz. Die im Fall der Deutschen Bank tatsächlich vorhanden ist, da kaum eine andere Bank mehr Verflechtungen im Bankenwesen aufzuweisen hat. Irgendwie krass.
Stellt sich die Frage: Was haben die Jungs und Mädels in den Banken und der Politik eigentlich seit Lehman Brothers genau gemacht? Das würde mich schon mal interessieren. Wie kann es sein, dass alles beim Alten geblieben ist, nur noch doller, größer und vor allem gefährlicher für alle anderen?
+++ Wohin nur mit dem Geld? +++
Warum jetzt, wo doch die Zinsen niedrig sind, kein Geld in Infrastruktur investieren? Richtige und wichtige Ideen skizziert Mark Schieritz in seiner Kolumne in der Zeit, Wohin nur mit dem ganzen Geld, wenn er schreibt:
»Wolfgang Schäuble hat es wieder geschafft. Zum dritten Mal hintereinander hat der deutsche Finanzminister einen Haushalt vorgelegt, der ohne frische Schulden auskommt. In normalen Zeiten wäre dies Anlass genug für ein Loblied auf den obersten Kassenwart, der sich wieder einmal gegen all seine Widersacher durchgesetzt hat. Die Frage ist nur: Wie normal sind die Zeiten?
»Das kann aber kein Grund dafür sein, einfach zur Tagesordnung überzugehen. Warum wurde beispielsweise noch keine Kommission eingesetzt, die Projekte identifiziert, die den Zustand der Welt verbessern würde – vielleicht sogar auf der Ebene der G 20? Wo bleiben die Initiativen gegen den Klimawandel oder für einen besseren Zugang zu Bildung und Ausbildung? Am Geld muss die Umsetzung jedenfalls derzeit nicht scheitern.
»Wir erleben derzeit zwar einerseits eine historisch wahrscheinlich beispiellose Ballung globaler Probleme. Doch weil die Finanzmärkte mangels alternativer Investitionsmöglichkeiten dem Staat Geld zum Nulltarif anbieten, eröffnen sich zugleich erhebliche politische Handlungsspielräume zur Lösung eben dieser Probleme. […] Doch eine Finanzpolitik, die auf der Höhe der Zeit sein will, würde diese einmalige Gelegenheit nutzen.« Mark Schieritz, Wohin nur mit dem ganzen Geld, die Zeit
+++ Viel Herz. Goldene Palme für Ken.
Es ist zwar schon ein paar Wochen her, aber im BREXIT-Chaos sollten wir nicht die wirklich wichtigen Dinge vergessen, um die es geht. Mehr Chancen, mehr Verteilungsgerechtigkeit. Kurz, ein besseres Leben für alle.
Für seine bewegende, politische Anklage menschenverachtender Verhältnisse – I, Daniel Blake –, ein Film über die Büroktatie, die englische Arbeitslose über sich ergehen lassen müssen, gewann Ken Loach in diesem Jahr die Goldene Palme von Cannes.
Schattierungen von Charles Dickens und George Orwell schimmern auf, in diesem mutigen, gefühlvollen Drama über einen behinderten Mann, der, erdrückt von Auflagen und Regulierungen um seine Selbstachtung kämpft. Und gewinnt. Ein großartiger Film.
Von Armut spricht auch die amerikanische Journalistin in ihrem mutigen, erschütternden Bericht über Gelegenheitsjobs und ihr eigenes Überleben — I Know Why Poor Whites Chant Trump, Trump, Trump
+++ Habermas über Demokratie +++
Leseempfehlung
+++ Theresa May (#BREXIT 2. Akt) +++
Mit Theresa May besteigt am Mittwoch eine weitere europäische Staatschefin den Thron ohne gewählt, ohne vorher demokratisch legitimiert worden zu sein. Neuwahlen sind denn auch wenig überraschend, nach ihren gestrigen Aussagen, nicht Mays drängendstes Anliegen.
https://twitter.com/BoingBoing/status/752482211245461505
»Theresa May’s conveniently short walk to Downing Street is designed to combat the impression that nobody is in control. But without a major change in policy, we are still rudderless on a churning financial sea.« Paul Mason, Guardian
As with Britain’s first female prime minister, May’s elevation represents a victory for some women, but they’re the women who need the least help. http://www.lrb.co.uk/blog/2016/07/11/dawn-foster/not-a-feminist-victory/ …
+++ TTIP wird weiter durchgedrückt +++
Verhandlungen TTIP in Brüssel wieder aufgenommen. In der 14. Verhandlungsrunde stehen u.a. Energie und Handel mit Rohstoffen zur Disposition.
TTIP Verhandlungen waren zuletzt vom Bekanntwerden geheimer Verhandlungspapiere belastet worden.
#PORFRA. Auch ohne Ronaldo
Entertainment vor dem Hintergrund politischer Demonstrationen
#PORFRA. Portugal gewinnt – auch ohne Ronaldo – seinen ersten EM-Titel. Éder schießt Potugal ins 1:0 gegen Frankreich nach Verlängerung.
Superkicker Ronaldo bereits in der 8. Minute verletzt, in der 25. unter Tränen auf einer Bahre vom Platz getragen, steht in der zweiten Halbzeit wild gestikulierend neben Portugals Trainer am Rand des Spielfelds, der Mannschaft Tipps zurufend, um sich dann am Spielende buchstäblich vor der Welt zu entblößen und unter Freudentränen, den Eimer abknutschend, mit gestältem Sixpack zu zeigen wie ein echter Gewinner aussieht. Großes Kino. Vor allem aber, mit mehreren 100 Millionen Euro Ablösesumme, Kapitalismus pur. Im Hintergrund – außerhalb der Fanmeile –, direkt hinter dem großen Display wird auf Demonstranten geschossen, mit Tränengas. Auf engagierte, mutige Menschen, die gegen eine Verschärfung der französischen Arbeitsmarktgesetze protestieren. Sie passen nicht ins Bild der Feierlichkeiten und folglich wird darüber auch kaum berichtet. Schade.
+++ Photo der Woche +++
Morning Roundup: Gott strafe England
Anschlag auf Istanbuler Atatürk-Flughafen
Drei Angreifer eröffneten in der vergangenen Nacht auf dem internationalen Flughafen Atatürk am Zugang zum Terminal das Feuer und sprengten sich in die Luft, nachdem die Polizei ihrerseits das Feuer auf sie eröffnete, berichtete am frühen Morgen die BBC, die sich dabei auf Offizielle bezieht. Laut BBC wurden 36 Menschen getötet. In einer dpa-Meldung bei der „WZ“ um 23:29 war die Rede von mehr als 30 Toten und 60 Verletzten gewesen, darunter 28 Opfer.
Atatürk Airport gelte seit langem als verwundbares Ziel; es gebe dort X-ray scanners am Terminalzugang, aber nur begrenzt Sicherheitsprüfungen für Autos, so die BBC.
Der Flughafen befindet sich auf der europäischen Seite Istanbuls im Stadtgebiet, mit entsprechend eingeschränkten Entwicklungsmöglichkeiten. Ein zweiter internationaler Flughafen Istanbuls – auf der asiatischen Seite – ist der Sabiha Gökçen International Airport.
Ein dritter Flughafen, wiederum auf der europäischen Seite, befindet sich seit 2015 im Bau und soll im Februar 2018 mit dem Namen Istanbul New Airport in Betrieb gehen.
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+++Update[13:30]: Deaths rise to 41, with 239 hurt, BBC News+++
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Gott strafe England
Qualitätsmedienoffensive – das hört sich gemein an, und ist auch gemein gemeint. Gemeint ist die deutsche Brexit-Berichterstattung.
Endlich macht Resteuropa wieder Spaß, findet „achgut“.
Seinen Feinden gibt man gern ein Küsschen
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker wird die Fähigkeit nachgesagt, die ganze Welt umarmen zu können. Also auch den britischen UKIP-Chef Nigel Farage.
Über „Sein oder Nichtsein“ der EU diskutiere man nicht alle Tage, so die „Deutsche Welle“. Ein Prinz in Dänemark meinte damit Tod & Suizid; ein König und Kaiser weiter südlich, rund fünf Jahrhunderte später, meinte damit Krieg.
David Cameron stellte auf einem Treffen mit europäischen Kollegen die Forderung nach mehr Kontrolle über Einwanderung. Angela Merkel wird in der „Welt“ mit den Worten zitiert, „wir sind Politiker. Wir sind nicht dafür da, uns mit Trauer aufzuhalten.“
Allerdings schreiben die „Welt“-Korrespondenten auch – vorsichtig, sehr vorsichtig – etwas über ein womögliches Hintertürchen, durch das Großbritannien wieder hereinkommen könnte.
Eins spricht jedenfalls dafür, dass die alte Routine weitergehen könnte: Cameron stellt immer noch Forderungen.
Oder schon wieder. Dann könnte die „Qualitätsmedienoffensive“ (siehe oben) aber ganz schön sauer werden.
Nordkorea: All-Koreanisches Einheitsmeeting
Xinhua am 27.06.16
Nordkorea veröffentlichte am 27. Juni einen offenen Brief mit dem Vorschlag, um den 15. August herum eine all-koreanische Vereinigungsversammlung unter Teilnahme der nord- und südkoreanischen Behörden abzuhalten.
朝鲜27日发表公开信,提议在8月15日前后举行由北南当局等参加的全民族统一大会。
[Die nordkoreanische Nachrichtenagentur] KCNA berichtete am 27. Juni, die nordkoreanische Seite schlage in ihrem offenen Brief eine gemeinsame nationale Versammlung um den 15. August herum in Pyongyang oder Kaesong vor, unter Teilnahme der nord- und südkoreanischen Regierungsbehörden, Delegierte in- und ausländischer politischer Parteien und von Persönlichkeiten verschiedener gesellschaftlicher Kreise.
据朝中社27日报道,朝方在公开信中提议8月15日前后在平壤或开城举行由北南政府当局、国内外政党、团体代表、各界人士参加的民族大会,会议名称拟定为致力于朝鲜半岛和平与自主统一的北南、海外政党、团体、各界人士联席会议。
In dem offenen Brief heißt es, wenn die südkoreanische Seite hinsichtlich der Zeit, des Ortes, Teilnehmer, Gesprächsthemen usw. konstgruktive Vorschläge habe, werde die nordkoreanische Seite diese vollständig prüfen. Die nordkoreanische Seite schlug außerdem vor, im Juli hinsichtlich eines gesamtnationalen Vorbereitungskomitees und den Angelegenheiten aller Seiten routinemäßig Kontakt aufzunehmen.
公开信说,如果韩方对联席会议的时间、地点、参加对象、讨论事项等提出建设性意见,朝方有意对此进行充分考虑。朝方还提议,于7月就组建全民族共同准备委员会与各方举行事务性接触。
Der offene Brief ruft die südkoreanischen Behörden, die inländischen politischen Parteien, Organisationen und Menschen von Verstand und Erfahrung zu einer positiven Reaktion auf den nordkoreanischen Aufruf auf.
公开信呼吁韩国当局、国内外政党、团体和有识之士积极响应朝方号召。
Am 15. August 1945 hatte Japan die bedingungslose Kapitulation verkündet und seine Kolonialverwaltung der koreanischen Halbinsel beendet. Nordkorea hat den Tag zum „vaterländischen Befreiungstag“ erklärt.
1945年8月15日,日本宣布无条件投降,终结了在朝鲜半岛的殖民统治。朝鲜将这一天定为“祖国解放日”。
Reaktion der Regierung Südkoreas, lt. einem KBS-Bericht (auf Deutsch) vom 28.06.16:
Die nukleare Abrüstung Nordkoreas sei eine Voraussetzung für die Wiederaufnahme des innerkoreanischen Dialogs und Austausches, sagte ein Sprecher des Vereinigungsministeriums. Es sei unaufrichtig, ein Gesprächsangebot zu unterbreiten, wenn gleichzeitig Atomversuche und Raketentests stattfänden.
Der Wortlaut des offenen Briefs findet sich hier (soweit vernehmbar).
+++ UPDATE [12: 00 Uhr] +++__by Auerbach
#CETA.
+++ Die #EU erlebt mit dem #Brexit ein Beben … und macht mit #CETA einfach genauso weiter wie zuvor. Jean-Claude Juncker, Präsident der Europäischen Kommission, befürchtet »nationale Blockaden« und beschließt das #CETA Freihandelsabkommen mit Kanada ohne Zustimmung der nationalen Parlamente in Kraft zu setzen (siehe ZEIT v. 28.06.2016). Auch die FAZ berichtet, Jean-Claude Juncker wolle über das Freihandelsabkommen mit Kanada nur das EU-Parlament abstimmen lassen. Ein Bruch demokratischer Entscheidungsprozesse.
»Mehrere EU-Staaten, darunter Deutschland, hatten sich zuletzt dagegen ausgesprochen, Ceta als reines EU-Abkommen einzustufen und nach dem normalen EU-Gesetzgebungsverfahren zu behandeln. Denn dies würde dazu führen, dass an der Ratifizierung zwar das EU-Parlament beteiligt würde, dass nationale Parlamente wie der Bundestag aber nicht abstimmen könnten. In Berlin wird dies jedoch wegen der kritischen Öffentlichkeit für unverzichtbar gehalten. (…) In Brüssel besteht seit längerem die Sorge, dass Parlamente einzelner Staaten die Weiterentwicklung der europäischen Handelspolitik blockieren könnten.« FAZ, Juncker bestätigt Ausschluss nationaler Parlamente, 28.06.’16
Erste Reaktionen zur Ankündigung Junckers:
Morning Roundup: zwei Britanniens, viele EUs
Heute:
- Nach dem Referendum
- Israel/Türkei, Türkei/Russland normalisieren Beziehungen
- Polnisches Fernsehen: Berlin und Paris planen Superstaat
- Rosinenpicker: Merkel, nein Gabriel hat’s versemmelt
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Wer braucht jetzt noch einen Scoxit?
Wenn man den „sozialen Medien“ glauben darf (oder muss), gibt es ohnehin schon zwei UKs.
Wollen die im Referendum Unterlegenen, dass das so bleibt? Hoffen sie, die Entscheidung umstoßen zu können? Oder handelt es sich um Trauerarbeit?
Israel und Türkei entsenden Botschafter
Israel und die Türkei kündigten am Montag eine Normalisierung ihrer seit der Aufbringung der Mavi Marmara 2010 ausgesetzten diplomatischen Beziehungen (auf Botschafterebene) an. Dazu äußerten sich Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu auf einer Pressekonferenz in Rom, und sein türkischer Amtskollege auf einer Pressekonferenz in Ankara.
„Haaretz“ zitierte Netanyahu mit den ihm zufolge wichtigsten Punkten der Abmachung. Demnach werde das türkische Parlament ein Gesetz verabschieden, das alle Forderungen an involvierte israelische Soldaten streiche und zukünftige Forderungen blockiere. Außerdem enthalte die Vereinbarung eine Verpflichtung der Türkei darauf, „terroristische“ oder militärische Aktivitäten gegen Israel von türkischem Boden aus zu verhindern und Geldsammlungen für solche Zwecke zu verbieten. Allerdings dürften Hamas-Büros auch weiterhin auf türkischem Boden – politisch – aktiv sein.
Die Türkei verzichtete auf ihre Forderung, die israelische Blockade Gazas müsse vollständig aufgehoben werden. Somit erkenne die Türkei an, das Hilfslieferungen in den Gazastreifen zunächst Kontrollen im Hafen der israelischen Stadt Ashdod durchlaufen müsse.1)
Israel werde der Türkei die Förderung humanitärer Projekte in Gaza ermöglichen, darunter den Bau eines Krankenhauses, ein Kraftwerk und eine Meerwasserentsalzungsanlage, allerdings unter Sicherheitsvorbehalt.
Seinerseits erklärte der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim, ein erstes türkisches Schiff mit 20.000 Tonnen an humanitärer Hilfe werde am Freitag nach Ashdod auslaufen.
Israel wird dem „Haaretz“-Bericht zufolge 20 Mio. US-$ an einen humanitären Fond zahlen, der in der Türkei eingerichtet werde. Das Geld werde an die Familien derjenigen übertragen, die der Aufbringung der „Hilfsflotte“ 2010 getötet oder verletzt wurden. Zuvor allerdings müsse einem israelischen Offiziellen zufolge das türkische Parlament das Gesetz zur Blockierung von Ansprüchen gegen israelische Soldaten verabschieden.
Bereits am Sonntag habe Israel einen amtlichen Brief mit Erdogans Versprechen übergeben, türkische Geheimdienste einzusetzen, um zwei israelische Soldaten und zwei israelische Zivilisten freizubekommen, die in Gaza verschwunden seien und von Hamas festgehalten würden.
Kol Israel, der Radiodienst Israels für In- und Ausland, zitierte am Montag in seinen englischsprachigen Mittagsnachrichten (Ortszeit) Oppositionsführer Isaac Herzog:
Opposition leader, MK Isaac Herzog, said that Israel’s consent to compensate those who attacked IDF soldiers in the clash involving the Mavi Marmara Flotilla to Gaza in 2010 is mind-boggling. Especially, he says, considering that prime minister Netanyahu, defense minister Avigdor Lieberman,2) and education minister Naftali Bennett are the ones whose names are attached to the agreement with Turkey, that the right-wing leadership, said Herzog, is paying compensation to those who attacked IDF soldiers. Herzog also charged that security cabinet ministers are oblivious, as he put it, to the calls from the families for the return of missing Israeli soldiers from the 2014 military operation in Gaza. The families wanted it to be part of the agreement because of Turkey’s ties to Hamas, which rules the Gaza Strip and which has a command center in Istanbul.
Gideon Saar, ein früherer einflussreicher Likud-Minister, wurde von Kol Israel mit der Kritik zitiert, Netanyahu hätte die Tatsache nutzen müssen, dass die Türkei Probleme mit Russland, Amerika und den Kurden im eigenen Land habe, um ein besseres Ergebnis zu erzielen.
Dabei könnte ihm allerdings eine Aussage Moskaus entgangen, oder noch nicht bekannt gewesen sein, der zufolge Erdogan sich für den Abschuss eines russischen SU-24-Bombers im November 2015 durch die türkische Luftwaffe brieflich entschuldigt habe.
Der türkische Kurzwellensender „Stimme der Türkei“ erklärte in seiner deutschsprachigen Nachrichtensendung am Montagmittag, die Vereinbarung mit Israel werde als ein diplomatischer Erfolg der Türkei gewertet.
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1) Über diesen Punkt scheinen die Darstellungen Netanyahus und Yildirims auseinanderzugehen. Laut „Guardian“ erklärte Yildirim in seiner Pressekonferenz in Ankara, die israelische Blockade des Gazastreifens sei „weitgehend aufgehoben“ worden.
2) Verteidigungsminister Lieberman, der 2013 die Entschuldigung Netanyahus kritisierte, mit der die Normalisierungsverhandlungen zwischen Israel und der Türkei begannen, gehörte seinerzeit nicht dem Kabinett an. Er wird Berichten zufolge am Mittwoch, wenn das israelische Kabinett über das Abkommen mit der Türkei abstimmt, dagegen votieren.
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Polnisches Fernsehen: Berlin und Paris planen „Superstaat“
Die Regierungen und Medien der Visegrád-Staaten (Polen, die Slowakei, Tschechien und Ungarn) sind beunruhigt, und das nicht nur wegen des Brexits an sich, sondern auch wegen des Treffens der sechs EU-„Kernstaaten“, also der Gründungsstaaten Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und den Niederlanden. Bei dem Treffen der sechs Außenminister am Samstag in Berlin war Großbritannien zu einem zügigen Austrittsverfahren aufgerufen worden, was London jedoch kühl zurückwies: das Referendum sei eine innere Angelegenheit Großbritanniens, und das Timing, mit dem das UK die verfahrensauslösende Nachricht an die EU übergebe, werde man selbst bestimmen.
Die Verärgerung der Visegrád-Staaten wiederum fasste Radio Prag am Montagnachmittag so zusammen:
Bevor aber eine gemeinsame Lösung gesucht wird, ist es doch wieder zu einer Grüppchenbildung gekommen. Gerade Deutschland hat sich zunächst auf den kleinen Kreis der EG-Gründerstaaten gestützt, noch bevor die Verhandlungen in großer Runde beginnen konnten. In Prag haben sich nun die Außenminister der Visegrád-Staaten getroffen, um die Situation nach dem Ja zum sogenannten Brexit zu beraten. Ihrem Treffen wohnten auch der deutsche Außenamtschef Frank-Walter Steinmeier und der französische Außenminister Jean-Marc Ayrault bei.
Die seit 1991 – also vor der EU-Mitgliedschaft dieser Staaten – gebildete Visegrád-Gruppe wurde mit der Flüchtlingskrise erheblich wiederbelebt. Wirklich Gewicht erhielten die Skeptiker der deutsch-schwedischen, liberaleren Flüchtlingspolitik aber erst mit dem Machtwechsel in Polen im November 2015, hin zur nationalkonservativen PiS-Partei, so der „Economist“ im Januar. In den Visegrád-Staaten gebe es keine nennenswerte Zahl von Flüchtlingen.
Die Euroskepsis könnte allerdings nach hinten losgehen, warnte der „Economist“: Deutschland habe angedeutet, bei der Budgetgestaltung der EU könnten Länder bevorzugt werden, die die Flüchtlingsbürde mit trügen.
Was noch vergleichsweise harmlos wäre, auch wenn man die Öffentlichkeit damit ein paar Tage beschäftigen kann.
Am Montagvormittag hatten Radio Polen bzw. die polnische Nachrichtenagentur PAP das polnische Fernsehen TVP Info mit einer Enthüllung wiedergegeben, der zufolge Deutschlands Außenminister Steinmeier den vier zentraleuropäischen Ländern ein Vorschlagspapier vorlegen wolle, bei dem es sich um ein „Ultimatum“ handle.
TVP Info sagte, die Vorschläge bedeuteten, dass Mitglieder eines [europäischen] Superstaats praktisch kein Recht auf eine eigene Armee, ein eigenes Strafgesetzbuch oder ein getrenntes Steuersystem haben würden, und keine eigene Währung.
Außerdem, so TVP Info, verlören die Mitgliedsstaaten die Kontrolle über ihre eigenen Grenzen und über die Verfahren zur Aufnahme und Umsiedlung von Flüchtlingen.
Polens Außenminister Minister Witold Waszczykowski sagte gegenüber TVP Info: „Dies ist natürlich keine gute Lösung, denn seit der Zeit, als die EU erfunden wurde … hat sich viel verändert.“
„Die Stimmung in den europäischen Gesellschaften ist anders. Europa und unsere Stimmberechtigten wollen die Union nicht in die Hände von Technokraten übergeben.“
[…]
Martin Schäfer, ein Sprecher des deutschen Außenministeriums, sagte: „Berlin will keinen Superstaat, es will ein besseres Europa.“
Es müsste langsam auffallen: es fehlt nicht nur an echten Bemühungen um ein „besseres Europa“, sondern auch an einer europäischen Öffentlichkeit, in der definiert würde, wie so ein Europa eigentlich aussehen müsste.
Es gibt nicht nur zwei Vereinigte Königreiche (Brexiters und Remainers); es gibt auch mindestens zwei EUs. Wesentlicher Unterschied: die zwei Königreiche nehmen einander zur Kenntnis.
Merkel, nein, Gabriel, ist schuld am Brexit
Die deutsche Berichterstattung über das EU-Referendum im Vereinigten Königreich weist Mängel auf. Sie bedient und verstärkt Stimmungen, anstatt nach Ursachen zu forschen.
Insoweit ist die Kritik, die Jan Fleischhauer gestern (am Montag) in seiner Kolumne auf „Spiegel online“ äußert, durchaus berechtigt.
Nun ist eine Kolumne keine Berichterstattung. Sie ist – jedenfalls nicht zuletzt – Meinung. Und da pickt sich Fleischhauer die Rosinen aus den Indizien – oder Nochnichtmalindizien, denn er beweist ja erklärtermaßen nichts – aus dem Argumentenkuchen herauspickt:
Ginge es um eine echte Bestandsaufnahme der Brexit-Gründe, müsste über die Flüchtlingspolitik geredet werden. Man wird nie beweisen können, welchen Anteil Merkels Politik der offenen Grenzen für den Ausgang des Referendums spielte. Aber dass die Bilder von Flüchtlingstrecks Richtung Bayern vielen Briten eine Heidenangst eingejagt haben, darf als gesichert gelten. Wenn nicht einmal die disziplinierten Deutschen willens oder in der Lage sind, ihre Grenzen zu schützen, wem soll es dann gelingen?
Heidenangst – das ist schon eine Quantifizierung. Der Hinweis auf den Faktor „Flüchtlingspolitik Deutschlands“ hätte – wollte Fleischhauer Anspruch auf Objektivität erheben – reichen müssen.
Und für Lutz Herden („Der Freitag“, keine Kolumne, aber Meinung) spielt Griechenlands Beinahe-Brexit eine Rolle im Brexit:
Als sich beim Referendum in Griechenland am 5. Juli 2015 eine klare Mehrheit gegen die absehbaren Zumutungen der Troika aussprach, befand Gabriel, Tsipras habe „letzte Brücken eingerissen, über die Europa und Griechenland sich auf einen Kompromiss zubewegen könnten.“ Bis heute ist das Gerücht nicht widerlegt, Gabriel habe sich intern für einen Grexit ausgesprochen, weil nicht der Eindruck entstehen sollte, die SPD sei zu nachgiebig in Finanzfragen und neige vielleicht gar zum Schuldenschnitt für Griechenland.
Inzwischen scheint Gabriel die Ahnung umzutreiben, dass der 5. Juli 2015 in Griechenland ein Vorläufer des 23. Juni 2016 in Großbritannien gewesen sein könnte.
Könnte. Nicht unwahrscheinlich. Zumal unter den doofen, womöglich gar geschichtsbewussten, Alten.
So picken sich Rechts und Links ihre Lieblingsursachen für den Brexit heraus, und jeder wird auf seine Weise fündig. Aber ob sich daraus ein Gesamtbild entwickeln lässt?
Morning Roundup: Steinmeier schaltet sich scharf, aber London hat Zeit
Brexit: there’s no such Thing as a Deadline
David Cameron trifft am Dienstag und Mittwoch nächster Woche seine Kollegen bei einem Gipfel des Europarats, schrieb gestern der „Telegraph“:
Er wird unter erheblichem Druck stehen, Artikel 50 [des Lissabon-Vertrags] zu aktivieren und Ausstiegsverhandlungen zu beginnen. Die Führer [der EU-Mitgliedsstaaten und der EU] wollen nicht in ein monate- und jahrelanges Gefeilsche über Großbritanniens Status hineingezogen werden: „Raus ist raus“, sagte [EU-Kommissionschef] Jean-Claude Juncker am Mittwoch.
Im Gegensatz dazu hat die offizielle Out-Kampagne gesagt, es bestehe keine Notwendigkeit, Artikel 50 zu aktivieren, so lange keine informellen Verhandlungen stattgefunden hätten – die potenziell Jahre dauern können.
Geht es nach EU-Kommissionschef Juncker, sollen sich die Briten zügig vom Acker machen. Und während die deutsche Regierungschefin Angela Merkel London ein möglichst freundliches Gesicht zu zeigen versucht, macht Friedensfürst Steinmeier sich schon mal scharf.
Eine Default-Regelung, der zufolge nach einem Zeitrahmen von zwei Jahren entweder eine Einigung erreicht ist oder aber Großbritannien nur noch zu WTO-Konditionen mit der EU handeln und investieren darf, gibt es aber nicht, so lange der Artikel 50 nicht mit einer britischen Austrittsnote an Brüssel aktiviert wurde.
Und da stellt sich natürlich die Frage, warum London sich freiwillig unter Zeitdruck setzen sollte. Das Referendum hatte eine beratende, keine Anweisungsfunktion für Whitehall, hob vor zwei Tagen David A. Green, Rechtskommentator der „Financial Times“ hervor. Und auch bei Befolgung des Ergebnisses liege es bei London, den „roten Knopf“ des Artikel 50 zu drücken – und das werde nicht zwangsläufig geschehen.
Mit Fristen hat man in London bereits vor dreißig Jahren böse Erfahrungen gemacht: als Großbritannien mit China über die Rückgabe Hong Kongs verhandelte, gab es einen nahezu unausweichlichen Termin: den 99 Jahre zuvor vereinbarten Rückgabetermin des nahezu kompletten Territoriums am 1. Juli 1997 um null Uhr. Von Chinas Daumen auf Hong Kongs Trinkwasserversorgung und Hong Kongs Müllabfuhr gar nicht zu reden.
Neoliberale Vision für die britische Zukunft
Tim Congdon, Wirtschaftsprofessor und führendes Mitglied der UKIP, zeichnet in einem BBC-Beitrag das Bild eines wirtschaftlich liberalisierten Großbritanniens:
Mit einem Vereinigten Königreich, das wieder in der Lage ist, finanzielle Regulierungen entsprechend seinen eigenen Bedürfnissen zu schneidern, kann die Londoner City außerhalb der EU blühen. Die meistgehandelte Währung in der City ist der Dollar. Aber das Vereinigte Königreich ist kein Staat der USA – musste nicht der 51. Staat werden, um seinen hohen Anteil am internationalen Finanzgeschäft aufrechtzuerhalten, das in Dollars betrieben wird. Wertpapiere, die in vielen Nationen herausgegeben werden, kauft und verkauft man in London, und das wird nach dem Brexit weitergehen.
[…]
Natürlich müssen britische Unternehmen, wenn sie in die EU exportieren, die EU-Regulierung befolgen, ob das Vereinigte Königreich nun in der EU ist oder nicht. Aber gibt es irgendeinen Grund, warum das UK nicht ein Arrangement mit der EU verfolgen sollte wie das der USA, Australiens, oder Kanadas? Sie blühen, ohne zum Gemeinsamen Markt zu gehören.
Auf keinen Fall darf das UK irgendwelches Geld an die EU zahlen, für den Zugang zum Gemeinsamen Markt, wie es Norwegen und die Schweiz tun.
Nationen ziehen Nutzen aus dem freien Handel. Der Gipfel des freien Handels ist wirklich der absolute, bedingungslose und unilaterale freie Handel, wie Singapur und Hong Kong ihn betreiben.
Es darf keinen Zweifel an Großbritanniens Fähigkeit geben, eine erfolgreiche eigene Handelspolitik außerhalb der EU zu errichten.
Sogar Nationen, die so klein wie Island und Chile sind, mit Handelsvolumina, die Bruchteile des britischen ausmachen, haben ausgedehnten internationalen Handel, die auf gegenseitig vorteilhaften bilateralen Handelsabmachungen und multilateralen Rahmenwerken der Welthandelsorganisation beruhen.
Noch nie habe ein Staat die EU verlassen, so BBC-Korrespondentin Carolyn Quinn in einem Feature für BBC Radio 4 im Januar. Aber Grönland, ein autonomes Überseegebiet Dänemarks, habe nach einem Referendum die EU verlassen – das war 1985, über zwanzig Jahre vor der Unterzeichnung und Inkraftsetzung des Vertrags von Lissabon mit dem jetzt so kritischen Artikel 50.
Das damalige Ergebnis des grönländischen Referendums: 52% für Austritt, 48% dagegen.
Putin besucht Beijing
Am Samstagabend Lokalzeit trafen sich Chinas Staatsvorsitzender Xi Jinping und Russlands Präsident Vladimir Putin in Beijing. Zu den von ihnen diskutierten Themen gehörten laut Radio Japan die Konflikte um das Südchinesische Meer.1) Laut der staatlichen russischen Medienplattform RT billigten die beiden Seiten Geschäftsinitiativen im Gesamtwert von 50 Mrd. US-$. Außerdem sei ein verstärkter Einsatz in nationalen Währungen – also russischen Rubel und chinesischen Yuan RMB – in den bilateralen Geschäften vereinbart worden.
Putin besuchte Beijing im Anschluss an das Gipfeltreffen der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit in Uzbekistan. Laut „Guardian“ lag der Schwerpunkt dabei auf Energielieferungen und petrochemischen Projekten, inklusive Unternehmensbeteiligungen.
Laut „Beijing Times“, hier wiedergegeben durch die „Volkszeitung“, dem Zentralorgan der KP Chinas, wurden über dreißig Dokumente über Zusammenarbeit unterzeichnet. Die chinesische State Grid Corporation und das russische Energieunternehmen Rosseti unterzeichneten anlässlich des Putin-Besuchs einen Vertrag über die Gründung eines Joint Ventures. Tass meldete heute, Geschäftsfeld des JV werde der Ausbau von Infrastrukturen in der Energieversorgung sein. Die Finanzierung – bis zu 1 Mrd. US-$ jährlich – werde durch chinesische Kredite sowie durch andere ausländische Finanzinstitutionen gewährleistet.
Xi betonte bei dem Treffen mit Putin in der „Großen Halle des Volkes“ auch die Bedeutung gegenseitiger politischer Unterstützung der beiden Länder. Durch Förderung der Zusammenarbeit auf Gebieten gemeinsamen Interesses, insbesondere die Förderung strategischer Schnittstellen in der Entwicklung beider Länder und des Seidenstraßenprojekts.2), solle ferner die Zusammenarbeit im Rahmen der Eurasischen Wirtschaftsunion gestärkt werden.
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1) Vergleiche „Morning Roundup“, 11.06.16, Spratley-Inseln: Philippinen gegen China.
2) Seidenstraße = one belt, one road, vergl. Xi Jinping in Polen, 21.06.16.
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